Der Exhibitionist in Stefan Zweig, der Voyeur in uns

Ulrich Weinzierl über das Intimleben eines weltbekannten Autors

Von Stephan ReschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stephan Resch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kaum ein Buch über Stefan Zweig hat in den letzten Jahren ähnliches Medieninteresse erfahren wie die kürzlich von Ulrich Weinzierl vorgelegte Studie zu Zweigs Vita sexualis. Weinzierl ist ausgewiesener Kenner der Wiener Moderne und ist auch in der Zweig-Forschung kein unbekannter Name. Mit Stefan Zweig: Triumph und Tragik hat er bereits 1992 eine Sammlung wenig schmeichelhafter Aufsatz-, Brief- und Tagebuchauszüge über Zweig veröffentlicht, in der Zweig als „gebrochene Existenz“ und bei Schriftstellerkollegen unbeliebter Darsteller seiner selbst und eines nicht mehr existierenden Fin de Siècle Wiens porträtiert wird.

Weinzierl geht in dem neuen Buch von einer ähnlichen Prämisse aus. Mit akribischer Quellenforschung widmet er sich dreierlei Aspekten des Zweigschen Sexuallebens: den heterosexuellen Beziehungen, den vermuteten homosexuellen Tendenzen und dem bisher nur leise angedeuteten Exhibitionismus Zweigs. Dass Zweig ein notorischer Frauenheld war und sich sogar seine Frau Friderike widerwillig damit abgefunden hatte, in dem Reigen dieser Liebesabenteuer lediglich das „Oberhaserl“ zu sein, ist in der Zweig-Forschung keineswegs unbekannt. Freilich sind die Details zu verschiedensten sexuellen Präferenzen bisher noch nie so pointiert zusammengetragen und ausgebreitet worden.

Im zweiten Abschnitt des Buches geht Weinzierl der Frage nach, ob Zweig möglicherweise homosexuell gewesen sein könnte. Auch hier werden allerlei Indizien gesammelt: Zweigs Kult der großen Männer (Walt Whitman, Emile Verhaeren, Romain Rolland u.a.), sein ausgesprochen homosexuell geprägter Freundeskreis, die einschlägige Novelle Verwirrung der Gefühle und Tagebucheinträge, die auf eine kurze schwule Episode hindeuten könnten. All dies ist gewissenhaft recherchiert, kurzweilig geschrieben und unterstreicht zweifellos Zweigs Interesse an verschiedenen Ausprägungen der Sexualität. Für weitere Schlussfolgerungen reicht die Beweislage indessen nicht aus. Dass Zweig kein „verklemmter Homosexueller“ war, das räumt der Autor schon im Vorfeld ein und lässt damit seine ‚Beweisführung‘ gewissermaßen ins Leere laufen.

Im dritten Teil des Buches geht Weinzierl der Vermutung nach, dass Zweig in jungen Jahren exhibitionistisch veranlagt gewesen sein könnte. Der Forschung war diese These zwar bekannt, die Quellenlage schien jedoch zu unsicher, um Abschließendes darüber zu sagen. Weinzierl hat durch sorgfältige Lektüre der Tagebücher Hinweise dafür gefunden, die nahelegen, dass der Begriff des „Schauprangertums“ ein von Zweig selbst geprägtes Codewort für die exhibitionistischen Streifzüge durch Wiener Parks gewesen ist: „Dann spazieren, Liechtenstein, schaup. Das Object zu jung noch ohne tieferes Interesse, mehr frappiert als schon an richtiger psychologischer Stelle erfasst. Dies eigentlich weniger aufreizend, aber mehr gefährlich und wäre zu vermeiden“. Im Tagebuch finden sich solche Eintragungen von 1912 bis 1915, Weinzierl vermutet aber, dass Zweig mit dem Ausleben der exhibitionistischen Neigungen bereits zehn Jahre davor begonnen hatte.

Welchen Erkenntniswert haben solche Entdeckungen? Die Aufmerksamkeit, die dieses Buch erregt hat, legt nahe, dass über den Exhibitionisten in Zweig vor allem der Voyeur im Leser angesprochen wird. Bei aller vorbildlichen Recherchearbeit die hier geleistet wurde, kann man sich des Gefühls einer gewissen Sensationshascherei nicht erwehren. Denn Weinzierl geht über die kunstvolle, bisweilen spannende Collage aus Zitaten und Textfragmenten nur gelegentlich hinaus. Etwa wenn er Zweigs Sexualverhalten im Kontext der Moralvorstellungen des Wiener Fin de Siècle bespricht oder wenn er, ansatzweise, Zweigs Novelle Phantastische Nacht vor dem Hintergrund der exhibitionistischen Episoden interpretiert. In diesen Momenten zeigt sich das Potential jener Recherchen. Leider bleibt die Frage, wie sich all dies im Werk niedergeschlagen haben könnte, nur Beiwerk. Ergeben sich daraus tatsächlich neue Lesarten für Zweigs psychologisch fein beobachtete Novellen mit ihren nervösen Protagonisten? Könnte etwa die Novelle Angst, in der eine junge Ehebrecherin mit der Enthüllung ihrer Tat erpresst wird, eine publikumsgerechte Umarbeitung des eigenen Seelenzustands gewesen sein? Fertiggestellt wurde Angst nämlich im Sommer 1913, nur wenige Monate, nachdem Zweig mutmaßlich als Exhibitionist ertappt wurde und im Tagebuch bereits über das Ende seiner Karriere sinnierte.

Über solche und ähnliche Fragen gibt diese Studie wenig Auskunft und ist daher im Umfang letztendlich, je nach Blickwinkel, zu lang oder zu kurz geraten. Zu lang ist sie, weil die wirklich neuen Erkenntnisse nur einen Bruchteil des Buches ausmachen. Zu kurz ist sie, weil auf die Bedeutung jener Entdeckungen für Zweigs Werk kaum verwiesen und damit eine wertvolle Gelegenheit verpasst wird, über pikante biographische Anekdoten hinaus (die auch viele Feuilletons dankend aufgegriffen haben) eine neue Auseinandersetzung mit Zweigs Texten zu suchen. Es bleibt zu hoffen, dass Weinzierls Buch langfristig dazu beiträgt, neue Zugänge zu Zweig zu finden und damit der seit rund zehn Jahren wieder aufblühenden deutschsprachigen Zweig-Forschung frische Impulse zu geben. In der Zwischenzeit kann das Buch getrost als Kuriositätensammlung aus dem Intimleben eines weltbekannten Autors gelesen werden.

Titelbild

Ulrich Weinzierl: Stefan Zweigs brennendes Geheimnis.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2015.
286 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783552057425

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