Jagd auf merkwürdige Wesen

Zu Eva Boltas Untersuchung der „Chimäre als dialektische Denkfigur im Artusroman“

Von Miriam StriederRSS-Newsfeed neuer Artikel von Miriam Strieder

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Chimäre als Hybrid, als Mischwesen und zweigestaltiges ‚Monster‘ fasziniert die Menschen seit Jahrtausenden und hat seinen eindrucksvollsten und vermutlich auch einprägsamsten Ausdruck in der ägyptischen Sphinx gefunden, die nicht nur rätselhaftes Monument ist, sondern auch Eingang in Comics, Verfilmungen und Persiflagen gefunden hat. Die Faszination, die von den Chimären ausgeht, ist ungebrochen und Eva Bolta widmete diesen Wesen ihre Dissertation.

Zuerst betrachtet sie die verschiedenen Termini, mit denen die Mischwesen versehen werden und sorgt so für begriffliche Klarheit. Dabei unternimmt sie auch Ausflüge in bildliche Darstellungen der fantastischen Wesen und nimmt ihr Potential als philosophisches Konstrukt in den Blick. Schon dabei macht Bolta deutlich, dass in der Denkfigur Chimäre, so der Titel ihrer Arbeit, narratologische Möglichkeiten angelegt sind, die in den folgenden Kapiteln näher untersucht werden.

In der Textanalyse widmet Bolta zuerst den „chimärischen monstra“ eine kompakte Darstellung. Dabei hat sie Cundrie aus dem Parzival, Pfetan, das wundersame Tier bzw. König Lar und Marrien aus dem Wigalois und die Botenfigur aus der Krone ausgewählt. Auch wenn Wolfram für sein ‚wildes Erzählen‘ berühmt und berüchtigt ist und die anderen untersuchten Romane allgemein der ‚Nachklassik‘ zugeordnet werden, bezieht Bolta, wo nötig und sinnvoll, auch frühere Artusromane in ihre Betrachtungen ein.

Im dritten und letzten Teil ihrer Untersuchung überträgt Bolta ihre Untersuchungsergebnisse auf den Protagonisten und wählt dazu passenderweise den Musterritter Gawan/Gawein aus, der nicht nur über Sprachgrenzen hinweg populär ist, sondern auch eine sonderbare und spannende Karriere innerhalb der Artusromane erlebt: Ist er der mustergültige, glanzvolle Ritter und wird gerade von den Erzählern immer wieder so dargestellt, ist die Figur Gawein doch auch anfällig für Einschwärzungen, die aus ihm besonders in der französischen Tradition einen veritablen Schurken machen und auch in den deutschen oder englischen Artusromanen ihre Wirkung nicht verfehlen. So kann der Musterritter konfrontiert werden mit Vergewaltigungsvorwürfen, mit Verteidigung von Verbrechern und mit seltsamen Leerstellen, die seine Identität bis an die Grenze der Erzählbarkeit strapazieren und so die Einheit der Figur Gawein mehr als nur bedrohen.

Boltas Betrachtungen bestechen durch eine klare, präzise Sprache, die ihre Überlegungen leicht verständlich und deutlich transportieren. Die Struktur ihrer Arbeit spiegelt den Inhalt optimal wider und ermöglicht ein leichtes Nachvollziehen der Gedankengänge: Bolta nimmt ihre Leser bei der Hand und führt sie mit einem klaren, roten Faden durch ihre Arbeit.

Schon das einführende terminologische Kapitel verrät eine Sicherheit im Umgang mit den Begriffen und eine wohlüberlegte Anwendung dieser. Für die Etablierung der Chimäre im Artusroman Parzival, Wigalois und die Krone auszusuchen, ist sicherlich eine geschickte Wahl, auch wenn durch dieses Textkorpus der Verdacht naheliegt, dass sich Chimären in den späten Artusromanen häufen, während sie in den klassischen Artusromanen eher randständige Figuren sind. Es wäre wünschenswert, dieser Vermutung auf den Grund zu gehen.

Auch die Analyse Gaweins, die sich über mehrere europäische Texte erstreckt und damit das Problem der Beeinflussung der einzelnen Werke von Vorgängertexten birgt, ist im Großen und Ganzen sehr gelungen und bietet eine schlüssige Erklärung, warum Gawein zum einen als der beste, oder einer der besten Artusritter auftreten kann, zum anderen aber auch schurkische Elemente zu Attributen der Figur werden. Einzig die Analyse von Sir Gawain and the Green Knight erscheint mir problematisch, da Bolta den Zug der humilitas und der humanitas, die Gawein so offensichtlich aus seiner âventiure mit dem grünen Ritter mitbringt, zugunsten ihrer Interpretation zwar erwähnt, aber im Ganzen ignoriert und nicht schlüssig widerlegen kann.

Überaus interessant ist der Denkanstoß, den Bolta im Abschluss der Analyse der Gawein-Figur gibt: Sie vermutet, dass nicht nur Gawein als chimärische Figur zu betrachten sei, sondern diese Eigenschaft sich auch auf Parzival, Gwigalois oder Lancelot übertragen ließe. Hier liegt sowohl ein faszinierender Denkansatz als auch die Gefahr, die Protagonisten der Artusromane zu beliebigen Figuren zu degradieren, die miteinander problemlos austauschbar sind. Sollte diese Analyse der oben erwähnten Figuren unternommen werden, müsste zugleich auch Augenmerk auf ihre ‚Unverwechselbarkeit‘ gelegt und situative Chimärenhaftigkeit betrachtet werden, die aber durchaus ein neues Feld der Interpretation eröffnen könnte.

Insgesamt legt Eva Bolta eine sehr durchdachte und gelungene Arbeit vor, die neue Perspektiven auf die Figurenanalyse eröffnet und dabei ein altes Denkprinzip auf kluge Weise fruchtbar macht. Inwieweit sich diese Überlegungen bewähren können, werden hoffentlich weitere Arbeiten, die mit der Figur der Chimäre arbeiten, in Zukunft zeigen.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Eva Bolta: Die Chimäre als dialektische Denkfigur im Artusroman. Mit exemplarischen Analysen von Teilen des Parzival Wolframs von Eschenbach, des Wigalois Wirnts von Grafenberg und der Crône Heinrichs von dem Türlin.
Peter Lang Verlag, Frankfurt a. M. 2014.
270 Seiten, 61,00 EUR.
ISBN-13: 9783631654194

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