Ethisches Schreiben in der Gegenwart?

Stephanie Waldow erkundet Begegnungen mit dem Anderen in Philosophie und Literatur

Von Jochen StrobelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jochen Strobel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ist der Ethical turn in der Literaturwissenschaft ein Gewächs sui generis oder reagiert er auf neue oder erneuerte Artikulationen ethischer Bedürfnisse im herrschenden Diskurs, namentlich in Philosophie und Literatur? Letztere Auffassung vertritt Stephanie Waldow in ihrer umfangreichen Habilitationsschrift mit dem Titel „Schreiben als Begegnung mit dem Anderen. Zum Verhältnis von Ethik und Narration in philosophischen und literarischen Texten der Gegenwart“, in der sie an zahlreichen Beispielen vorführt, wie nach der Postmoderne ein Wechsel zu ‚ethischem Schreiben‘ eingesetzt habe. Ausgangspunkte sind die Postulate, das Schreiben werde nunmehr (wieder) als Aufgabe wahrgenommen, die mit Verantwortung sich und anderen gegenüber einhergehe. Außerdem ist laut Waldow das Anderssein ein Kardinalthema der gegenwärtigen Philosophie und Literatur.

Ob und inwiefern die besagten Minderheitenprogramme, wozu die anspruchsvolle Literatur diesseits des Bestsellererfolgs nun einmal gehört, ihren ethischen Impetus an ihre Leser und Leserinnen vermitteln können und welche Folgen dies zeitigen könnte, ist nicht Gegenstand des Interesses. Es geht also doch um die Texte als abgeschlossene Konstrukte, in denen Subjekt-Konzeptionen wiederkehren und zugleich ein „Ruf nach Verantwortung“ ertönt. Mit Paul Ricœur geht die Autorin davon aus, dass erzählende Literatur immer auch ein Ort ethischer Reflexion sei – eine zweifellos zum Widerspruch reizende These, der zahlreiche prominente Beispiele entgegenzusetzen wären. Waldows Anliegen ist es aber, anhand einiger ausgewählter Texte eine „narrative Ethik“ als heimliches Zentrum der Gegenwartsliteratur zu entdecken und die diskutierten Texte in das Feld der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur überhaupt einzuordnen.

Ethik als „Auseinandersetzung mit der Andersheit des Anderen“ wird in der ersten Hälfte des Bandes anhand philosophischer Texte Judith Butlers, Michel Foucaults, Emmanuel Levinasʼ, Jacques Derridas sowie Paul Ricœurs rekonstruiert. Diese Analyseschritte sind ergiebig, denn die Konzepte von Andersheit unterscheiden sich von Autor/in zu Autor/in. So ist das Andere bei Foucault und Butler ein vom Diskurs Ausgeschlossenes: Butler setzt als ethisches Ich ein narratives, von sich selbst erzählendes Ich, Foucaults Konzept der Selbstsorge erscheint als Praxis einer ethischen Lebenskunst sowie Levinasʼ Ich-Konstruktion im Rahmen einer sprachlich-narrativen Ethik als Begegnung mit dem Anderen, das das Ich zur Verantwortung ruft. Ricœur arbeitet eine Ethik des Alltags aus und führt zudem das Selbst als „ein Anderes“ ein – eine Vermittlung zwischen Selbst und Anderem geschieht im Akt des Erzählens in Gestalt einer narrativen Identität. Allen herangezogenen Theoretiker/innen gemeinsam ist ein Bezug auf Herrschafts- und Machtstrukturen, alle versuchen Ethik und Narrativität zu verbinden.

Ob die scharfe Kontrastierung von indifferent-ludischer Postmoderne und einer „Ethik vom Anderen her“, so die Überschrift des Philosophie-Kapitels, so glücklich ist, sei dahingestellt, erscheinen doch sämtliche Kronzeugen Waldows gemeinhin ausgerechnet unter dem Rubrum ‚Postmoderne‘. Natürlich ist Poststrukturalismus nicht mit ethischer Unverbindlichkeit, mit bloßem Binarismus oder gar sinnfreier „Vielschichtigkeit“ gleichzusetzen. Wenn die Verfasserin dem von ihr postulierten ethischen Schreiben wieder und wieder existenzielle Getriebenheit und zugleich eine Zentrierung auf die Sprache unterstellt, dann argumentiert sie nicht nur selbst streng binaristisch, sondern manche ihrer Thesen, etwa die von der Begegnung der Sprache mit sich selbst, erinnern zugleich wiederum an Argumentationsmuster der Postmoderne.

In der zweiten Hälfte ihrer Untersuchung erkundet Waldow literarische Texte des beginnenden 21. Jahrhunderts unter drei für eine narrative Ethik relevanten Überschriften, nämlich der der öffentlichen Erfahrung von Fremde beziehungsweise von Fremdheit, der intimen Erfahrung von Fremde im Liebesdiskurs sowie dem Dialog zwischen den Generationen im Hinblick auf die Shoah. Zugleich erkennt sie darin thematische Schwerpunkte der Gegenwartsliteratur. Die Textauswahl wird allerdings nicht begründet; ob es sich bei den Texten von teils das literarische Feld nicht dominant prägenden Autor/innen um Repräsentatives oder doch eher um Solitäres handelt, bleibt offen. Nicht unproblematisch ist folglich die vorab geäußerte Kardinalthese: „Aus der Zusammenschau literarischer und philosophischer Texte kann […] gezeigt werden, dass die gegenwärtige Literatur sich vor allem dem Projekt eines ethischen Schreibens widmet“.

„Fremdheit“ als Erfahrung in der sprachlichen Auseinandersetzung wird anhand von Texten Christoph Petersʼ und Terézia Moras herausgearbeitet. Konzipiert Moras Roman „Alle Tage“ die ethische Begegnung mit dem Anderen als veränderten Umgang mit Sprache, so stehen in Petersʼ Romanen „Ein Zimmer im Haus des Krieges“ und „Mitsukos Restaurant“ ethische Themen wie die Anerkennung fremder Religionen und Weltanschauungen im Mittelpunkt. Diese Anerkennung entwickelt sich in mühsamen, sprachlich repräsentierten Aushandlungsprozeduren. Auch der literarische Liebesdiskurs der Gegenwart – behandelt werden Texte von Ulrike Draesner, Markus Orths und Michael Lentz – ist der Verfasserin zufolge ein Austragungsort der Auseinandersetzung mit dem Anderen (etwa vor dem thematischen Hintergrund von Homosexualität oder Intersexualität), Begehren sei als ethischer Schreibmodus stets im Horizont des Umgangs mit der Sprache verortet. Schließlich liefern Romane von Minka Pradelski, Doron Rabinovici und Eva Menasse die Folie für eine Analyse ethischer Schreibweisen im Gespräch der zweiten und dritten Generation der Holocaust-Opfer. Eine Subvertierung des Täterdiskurses gelinge, so Waldow, jeweils im Akt des Erzählens.

Welches sind nun die Elemente oder besser die Strategien einer narrativen Ethik? Offensichtlich sind es Verfahrensweisen, die moderne narrative Texte häufiger ausmachen, die in Waldows Monografie jedoch als subversiv erscheinen: simulierte Mündlichkeit, Wiederholungen, Intertextualität, Ironie, Fantastik, Humor – dies seien die Mittel der Wahl, „um den herrschenden Diskurs aufzubrechen“. Handelt es sich dabei um spezifisch adaptierte Techniken? Waldows Projekt einer Untersuchung ethischen Schreibens hätte sich nicht zuletzt der techné zu widmen – und auffälligerweise spielen textanalytische oder rhetorische Begriffe im abschließenden Glossar leider keine große Rolle. Mal ist von Groteske die Rede, mal von Komik, nicht selten aber generalisierend von „Narration“ oder von Intertextualität – die Hinweise auf ästhetisch-literarische Verfahrensweisen zur Erzeugung einer ethischen Praxis der Literatur bleiben spärlich. Mittels einer Taxonomie narrativer Strategien den Nachweis zu erbringen, dass und wie „die absolute Andersheit des Anderen“ literarisch transparent gemacht wird, bleibt weiter ein Desiderat.

Der Buchtitel verweist auf die Praxis des Schreibens, nicht so sehr auf die fertigen Texte, deren Analyse dann doch wie gehabt im Mittelpunkt der Untersuchung steht. Gern wüsste man mehr über die Autor/innen und ihre Beweggründe, auch wenn sich dann ein möglicherweise revidierter Intentionalismus in die Interpretationspraxis einschleichen würde. Doch im Angesicht eines Ethical turn wäre es möglicherweise nicht das Verkehrteste, widmete sich die Literaturwissenschaft wieder mehr den empirischen Autor/innen, ihren Schreib- und Lebensprogrammen und damit auch den Hintergründen eines als ‚ethisch‘ verbuchten Schreibens zwischen gesellschaftlichem Engagement und Subjektivität. Steht hinter dem ethischen Schreiben die ethische Haltung eines Menschen, der mit anderen Menschen kommuniziert? Was bedeutet es, dass eine narrative Ethik dem Leser die Möglichkeit bietet, aus der „Erfahrung“ des Lesens „verändert hervorzugehen“?

Wäre künftig auch mancher Faden noch weiterzuspinnen, so sensibilisiert Waldow die Literaturwissenschaft doch für neue Lektürestrategien, vor allem dort, wo es um die Literatur der Gegenwart geht. Das Nachdenken über ‚ethisches‘ Erzählen stößt ihr Buch auf gewinnbringende Weise an.

Titelbild

Stephanie Waldow: Schreiben als Begegnung mit dem Anderen. Zum Verhältnis von Ethik und Narration in philosophischen und literarischen Texten der Gegenwart.
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2013.
420 Seiten, 54,00 EUR.
ISBN-13: 9783770552450

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