Eine subtile Charakterstudie mit viel Feingefühl erzählt

Henry James’ Novelle „Im Käfig“ als Hörbuch

Von Manfred OrlickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Orlick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Henry James’ Novelle „Im Käfig“ („In the Cage“) ist eine faszinierende Geschichte über eine junge namenlose Frau, die eigentlich ein streng geregeltes Leben führt. Sie arbeitet an einem Postschalter im vornehmen Londoner Stadtteil Mayfair und nimmt dort die Telegramme der High Society entgegen. Die kurzen Nachrichten ermöglichen der Telegrafistin ungeahnte Einblicke in die Heimlichkeiten, Verabredungen, Missverständnisse und Seitensprünge der glamourösen Welt der Schönen und Reichen.

In der Abgeschiedenheit ihres „mit Draht vergitterten Holzschlags“ versucht sie, sich aus den Abkürzungen der chiffrierten Telegramme die erotische Wahrheit dahinter vorzustellen. Auf merkwürdige Weise wird sie so gewissermaßen zur Komplizin. Sie führt ein Doppelleben: ihr eigenes banales Leben und ein Leben in der fantasievollen Welt der Anspielungen und Gerüchte.

Die Protagonistin beginnt, sich regelrecht in andere Personen hineinzuversetzen. Besonders die geheimnisvolle Liebelei des schmucken Captain Everard, der verschlüsselte Nachrichten an eine verheiratete Geliebte schickt, weckt ihre Neugier. Die junge Telegrafistin behandelt diese Botschaften so gewissenhaft, dass sie sogar Korrekturen an Stellen vornimmt, die Everards Liaison verraten könnten. Manchmal glaubt sie, in den verschlüsselten Texten des Captain eine Erwiderung ihrer Gefühle zu lesen. Sie macht sich Hoffnungen und malt sich ein zufälliges Zusammentreffen außerhalb ihres „Käfigs“ aus. Als der Zufall tatsächlich eintritt und sie ihren angebeteten „Kunden“ zufällig im Park trifft („Er würde vielleicht warten; er war ihr anderes Ich, vor dem sie sich fürchtete“), gesteht sie ihm ihre Gefühle. Obwohl sie ihm später bei der Herausgabe eines Telegramms, das ihn der Schieberei überführen könnte, behilflich ist, behandelt er sie wie eine x-beliebige Angestellte. Am Ende muss sie die Realität anerkennen („die Wahrheit sprang ihr mitten ins Gesicht“), was ihre träumerische Liebe in Hass umschlagen lässt.

Henry James hat dieses Psychogramm in 27 knappen Kapiteln erzählt. Die Novelle war das erste Buchprojekt, das er gemeinsam mit seinem Sekretär auf einer Schreibmaschine verfasste. Wahrscheinlich hat ihn dieser mechanische Prozess auch zu diesem speziellen Thema inspiriert. James war fasziniert von der neuen Technik, von der Wechselbeziehung zwischen gedachtem Wort und der Schreibmaschine, die wie beim Telegrafenticker der jungen Frau den Text in Zeichen zerlegte und festhielt.

Nun ist im Hörverlag eine vollständige Lesung auf vier Audio-CDs (Gesamtspielzeit 4 h 40 min) erschienen ­ nach einer neuen Übersetzung von Gottfried Röckelein. Dem bekannten Sprecher Hanns Zischler ist es dabei gelungen, die geheimnisvolle Atmosphäre und die verborgenen Wünsche der jungen Frau hörbar zu machen. Das beiliegende Booklet gibt neben Kurzbiografien zu Autor und Sprecher auch einige literaturgeschichtliche Hintergrundinformationen zu der im Jahr 1898 erschienenen Novelle. Mit „Im Käfig“ liegt neben der eigentlichen Handlung ein Hörbuch vor, das ein gesellschaftliches Bild am Ende des 19. Jahrhunderts vermittelt.

Titelbild

Henry James: Im Käfig.
4 CDs.
Der Hörverlag, München 2015.
280 Min., 24,99 EUR.
ISBN-13: 9783844520514

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