Ein Dichterleben im Biedermeier

Ulrich Kittstein wirft einen Blick hinter Mörikes Masken

Von Heribert HovenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Heribert Hoven

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eduard Mörike war nicht nur bedeutend als Dichter, sondern auch als Zeitgenosse. Obwohl er zeitlebens sein schwäbisches Heimatland kaum verlassen hat, pflegte er regen Umgang mit den Prominenten seiner Tage. Er wechselte Briefe mit den Jugendfreunden Wilhelm Waiblinger, Wilhelm Hartlaub, Hermann Kurz, später unter anderem mit Gustav Schwab, Ludwig Uhland, Gottfried Keller, Theodor Storm, Paul Heyse und Wilhelm Raabe. 1804 geboren, erlebte er Johann Wolfgang von Goethe, Heinrich Heine und Iwan Turgenjew, Karl Marx, Richard Wagner und zuletzt Otto von Bismarck. Er kannte und nutzte die Eisenbahn, ohne dass diese in seinem Werk je aufgetaucht wäre. Obwohl er selbst kein politischer Dichter war, hatte er politisch engagierte Freunde. Er stand dem liberalen Bürgertum nahe und kommentierte in seinen Briefen durchaus auch Zeitereignisse, wie etwa die Revolution von 1848, die Einigungskriege und die Reichsgründung, die er, 1875 gestorben, knapp überlebte. Seine Gedichte kommen oft bodenständig und heimatverbunden daher („Besuch in Urach“, „Idyllen vom Bodensee“). Tatsächlich sind sie trickreiche Kunststücke, biedermeierliche Wortmagie, in der sich seelische Untiefen und große Schöpferkräfte offenbaren.

Ulrich Kittstein, apl. Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Mannheim, der über Mörikes „Maler Nolten“ promovierte und am Mörike-Handbuch (2004) mitwirkte, hat nun Leben und Werk des Dichters in einem bemerkenswerten Hybrid zusammengeführt. Das umfangreiche Werk „Eduard Mörike. Jenseits der Idylle“ ist weder Biografie noch reine Werkanalyse, denn beides wurde zur Genüge bereits geleistet. Seine Aufgabe sieht Kittstein vielmehr darin, den Autor und sein Werk in einen zeitgenössischen Kontext zu stellen und so von dem gängigen Klischee zu befreien, nach dem Mörike „als stimmungsvoller Dichter der abgeschiedenen Idylle und der innigen Naturseligkeit [gilt], ausgezeichnet durch volkstümliche Einfachheit und einen versöhnlichen Humor“. Im Untertitel erweitert er daher auch den von Veronika Beci für ihre Mörike-Biografie (2004) gewählten, „Die gestörte Idylle“, in „Jenseits der Idylle“. Kittstein weist nachdrücklich darauf hin, dass Mörikes Leben, das durch die Forschung gut dokumentiert ist, keineswegs biedermeierlich idyllisch ablief, sondern eine Aneinanderreihung von beruflichen Misserfolgen und finanziellen sowie familiären Miseren war.

Dabei scheut Kittstein keineswegs den Vergleich mit gegenwärtigen Lebensumständen, um so dem heutigen Publikum die Dimensionen des Scheiterns zu verdeutlichen. Mörike war demnach kein heiterer und naiv lebensfroher, sondern ein „schwieriger Charakter“, der sich allzu gern hinter Masken verbarg und der sich, je stärker er in der Öffentlichkeit stehen musste, desto mehr einen Rückzugsort („Orplid“) herbeisehnte und ängstlich darum rang, „ein ungewöhnlich unauffälliges Dasein“ führen zu können. Er war zeitlebens ein Zweifelnder, wie Kittstein anhand des „Peregrin-Zyklus“ nachweist, und darin durchaus modern. Den heutigen Leser hat Kittstein auch in seinen Werkanalysen im Auge, wenn er dessen „ästhetischen und intellektuellen Genuss“ durch ein „historisch angemessenes Verständnis der literarischen Texte“ vergrößern will. Indem er diese synchron zusammenfasst und ordnet, zum Beispiel „Mörike und das Theater“, „Mörike und die Antike“, „Mörike und die Religion“, durchbricht er sinnvoll die diachrone Lebensbeschreibung und macht die Kapitel auch einzeln lesbar.

Mörikes einzigen und in gewisser Weise auch unvollendeten Roman „Maler Nolten“ interpretiert Kittstein als Blick in die „seelischen Abgründe“ einer Künstlerexistenz, von denen sich der Autor selbst durch einen „gezielten Gegenentwurf“ zu befreien suchte. Aus Mörikes verstreuten Äußerungen destilliert Kittstein eine „Poetik des heiteren Spiels“, die an die klassischen Vorbilder Goethe und Schiller erinnert. Der Dichter verbindet damit seine „Überzeugung von der harmonischen, beglückenden Wirkung wahrer Kunst“. Die dergestalt erzeugte „Harmonie“ ist indes kein Produkt seichter Unterhaltung, sondern Effekt der gelungenen künstlerischen Formung des Stoffes. Dies erklärt auch das Bemühen des poeta doctus um die zahlreichen lyrischen Formen, die oft bereits seit der Antike gepflegt wurden und die heute etwas altmodisch wirken. An diese legt Kittstein souverän das germanistische Handwerkszeug an, wodurch seine durchaus überzeugenden Analysen bisweilen so wirken, als seien sie einem literaturwissenschaftlichen Vorlesungszyklus entsprungen, in dem auch Schlaglichter auf die Sekundärliteratur nicht fehlen dürfen.

Titelbild

Ulrich Kittstein: Eduard Mörike. Jenseits der Idylle.
Lambert Schneider Verlag, Darmstadt 2015.
592 Seiten, 49,00 EUR.
ISBN-13: 9783650400758

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