Zwischen Amerika und Europa

Über Henry Jamesʼ kosmopolitische Weitsicht

Von Renate BroschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Renate Brosch

Das 100. Todesjahr von Henry James bietet eine ideale Gelegenheit, sich mit dem Werk des Autors zu beschäftigen, der in Deutschland noch zu wenig bekannt ist, da er hier erst nach 1945 auf breiterer Basis in Übersetzungen veröffentlicht wurde. Alexander Cammann schreibt in „Zeit Online“:

Seien Sie lieber vorab gewarnt: Dieser Schriftsteller wird Sie nicht mehr aus seinen Fängen lassen, sobald Sie eine Zeile von ihm gelesen haben […]. Verwerflich genug ist es ja, dass die allermeisten von Ihnen – so wie ich – bislang allenfalls seinen Namen und seinen Ruf kannten, dazu ein paar Titel seiner Hauptwerke. Denn schon nach wenigen seiner makellosen Sätze werden sich die allermeisten von Ihnen fassungslos fragen – so wie ich mich fassungslos gefragt habe –, wie es passieren konnte, dass Sie diesen Autor von Weltrang nicht schon vor Jahren verschlungen haben. Vieles wäre vielleicht anders verlaufen. So viel steht fest: Ein Leben ohne Henry James ist möglich, aber sinnlos.

Eine derartige Begeisterung und Faszination ist unter James-Anhängern, so genannten „Jamesians“ in der anglophonen Welt verbreitet, doch die Texte des Autors erreichten – zu seinem Leidwesen – nie ein Massenpublikum. An den Erfolg von Daisy Miller und The Portrait of a Lady konnte er nicht anschließen, und seine Versuche, das Theaterpublikum seiner Zeit zu erobern, das sich köstlich über Oscar Wildes Stücke amüsierte, misslangen kläglich. Doch schon für die etwas jüngere Autorengeneration um Virginia Woolf war er „the master“, der bedeutendste Romancier des vergangenen (19.) Jahrhunderts. Literaturwissenschaftler und Kritiker hegen keine Zweifel über den Stellenwert seines Werks in der Weltliteratur. In jüngster Zeit haben mehrere Filmadaptionen eine vorsichtige Modernisierung versucht, aber die Ereignisse in Jamesʼ Erzählungen brauchen einfach zu lange und erfordern – in Zeiten des Multitaskings und der elektronischen Kommunikation – ein zu ausführliches Abwägen. James zu schätzen heißt, sich auf eine Reise durch komplizierte Kognitionsprozesse zu begeben, die uns aber – wenn wir der Philosophin Martha Nussbaum glauben können – eine außerordentliche imaginative und moralische Bereicherung bieten können.

Zu Lebzeiten galt er als genauer Beobachter der Kulturdifferenz zwischen Amerikanern und Europäern, wie sie sich unter seinesgleichen, nämlich in den Begegnungen unter relativ begüterten Europareisenden darstellte. Zur Behandlung dieses „international theme“ war James geradezu prädestiniert, denn er kam aus einer privilegierten kosmopolitischen Familie, mit der er schon als Kind viel Zeit in Europa verbracht hatte. Als junger Mann kehrte er seiner amerikanischen Heimat konsequent den Rücken, um sein Leben zunächst in Paris, dann hauptsächlich in London zu verbringen. Thematisch gingen seine Romane und seine Kurzgeschichten weiter den kulturellen Unterschieden zwischen dem alten Traditionsraum Europa und den neuen demokratischen, aber – wie James fand – noch provinziellen Vereinigten Staaten nach.

Diese ‚Internationalisierung‘ äußert sich in kontrastierenden Figurenkonstellationen, die wie in der leichtfüßig daherkommenden Komödie Die Europäer Frauen und Männer von beiden Seiten des Atlantiks miteinander ins Gespräch bringt und ihre Heiratsstrategien und -taktiken offenlegt. So wie hier konkurrieren bei James immer wieder Ästhetik und Dekadenz der Alten Welt mit der Sittenstrenge und Unbefangenheit der Neuen. Christopher Newman, der amerikanische Held des Romans The American vereint schon im Namen Columbus’ Expansionsstreben mit dem neuen Menschenbild. Im Verlauf der Handlung treffen hier Konventionalität und Materialismus der französischen aristokratischen Gesellschaft vernichtend auf die ungezwungene Integrität des Amerikaners. In The Portrait of a Lady verkörpert die angehende Journalistin Henrietta Stackpole die bis zur Karikatur gesteigerte geistige und soziale Unabhängigkeit ihrer Freundin Isabel. Seine Form der Erkundung interkultureller Probleme, bei der sowohl die amerikanischen Charaktere entweder als naive „innocents abroad“ oder als dekadente Langzeitaussiedler als auch die Europäer eine Zielscheibe von Satire oder Kritik abgeben, verweigert eine eindeutige Bevorzugung von europäischer Vergangenheit oder amerikanischer Zukunft.

Um James’ Werk kennenzulernen, empfiehlt es sich, die Kurzgeschichten zu lesen, eine Form, die er meisterhaft beherrschte und die er als professioneller Autor den Erwartungen des literarischen Marktes anpasste. Mit seinen Geistergeschichten setzte er ein Genre fort, das in England von einer langen Überlieferung geprägt war und gerade zu seiner Zeit eine besondere Beliebtheit in serienmäßigen Publikationsformen genoss. Anders als viele heute vergessene Exemplare bedient James nicht nur die Sensationslust, sondern legt, indem er die Angst zum Thema und Wirkungseffekt seiner Erzählungen macht, eine Grundstimmung des späten 19. Jahrhunderts bloß. Der Titel seiner bekanntesten Gespenstergeschichte „The Turn of the Screw“ (die im Deutschen unter den Titeln „Die sündigen Engel“ und „Schraubendrehungen“ vorliegt) spielt auf die Ankündigung des Erzählers der Rahmenhandlung an, dass eine Steigerung des Horrors darin liege, dass Kinder an dem unheimlichen Geschehen beteiligt seien. Die Erzählung ist dafür berühmt, dass hier erstmals das Interesse auf die Frage der Fiktionalität gelenkt wurde. Spannend sind eben nicht nur die üblichen schauerlichen Ereignisse, sondern die Frage, ob diese Ereignisse wirklich passieren oder nur Einbildung der erzählenden Gouvernante der Kinder sind. Die Virtuosität von „The Turn of the Screw“ besteht darin, dass die Geschichte trotz ihrer relativen Länge durchgehend ambivalent bleibt und beide Lesarten zulässt. Eine geht davon aus, dass die Gouvernante fiktionale Realität berichtet, so dass der Horror im Einfluss der Toten auf die Kinder liegt. Die andere sieht den Horror eher im Geisteszustand der Erzählerin, deren verzerrte Sicht die sonderbare Kommunikation der Kinder mit den Geistern erst erzeugt. Diese unauflösbare Ambiguität der Geschichte hat einen anhaltenden Kritikerstreit verursacht.

Aber auch kürzere Geschichten wie „The Jolly Corner“ und „The Beast in the Jungle“ sind kleine Meisterwerke, die das Genre Kurzgeschichte ästhetisch aufwerteten und durch die Schwerpunktverlagerung von der äußeren Handlung in die inneren Bewusstseinsvorgänge reformierten. Viele Kurzgeschichten von James sind Künstlergeschichten und thematisieren das Verhältnis von Künstler und Gesellschaft sowie das Verhältnis von Kunst und Leben. Zu letzteren zählt auch „The Figure in the Carpet“, eine Geschichte, die in der Sekundärliteratur der letzten Jahre als exemplarischer, metafiktionaler Kommentar gegen ein naiv-referentielles Verständnis von Literatur gelesen worden ist. Ähnlich wie in „The Real Thing“ konnte James in die Darstellung der bildenden Künste seine eigene Leidenschaft und sein kunstkritisches Verständnis für Malerei einbringen. Der Autor hatte nach seiner Übersiedlung nach Europa zunächst Reiseberichte und Kunst- und Kulturkritiken für amerikanische Zeitschriften geschrieben, unter anderem über die ersten Impressionismusausstellungen. Künstler und Kunstwerke nehmen oft Schlüsselfunktionen in seinen Texten ein, nicht nur in thematischer Hinsicht. Sie können darüber hinaus auch Symbole für Lebensentwürfe und Welterfahrungen sein. Die Künstlergeschichte gab James Gelegenheit zur Diskussion der Rolle von Kunst und Ästhetik.

James hatte die für einen Autor besondere Gelegenheit, die Herausgabe seiner gesammelten Werke selbst zu gestalten. Für diese so genannte New York Edition (1907–1909) wählte er Fotografien des Kunstfotografen Alvin Langdon Coburn als Frontispize aus und schrieb Vorworte, in denen er seine Verfahrensweise erläuterte. Diese Essays stellen Meilensteine der Erzähltheorie dar: Sie eröffnen unentbehrliche Einsichten in die narrativen Innovationen, für die James als Modernist der ersten Stunde steht; sie gehörten damit zu den Grundlagentexten der sich am Beginn des 20. Jahrhunderts etablierenden Literaturwissenschaft. Die point-of-view-Technik, die James in den Vorworten zu seinen Romanen theoretisch fundierte, führte zum ersten Mal in aller Konsequenz zu einer Subjektivierung und Relativierung des Romans. Die Vorworte wurden 1934 von R.P. Blackmur als The Art of the Novel gesondert veröffentlicht. Sie beförderten den formalistischen New Criticism, der die Subjektivierung der Erzähltechnik als Errungenschaft feierte und nachgerade zum Prüfstein der Erzählkunst erhob. Unter ihnen gilt dasjenige zu The Portrait of a Lady, gesondert bekannt unter dem Titel „The Art of Fiction“, als das wichtigste.

Anlässlich der Neuausgabe sämtlicher Romane schrieb James nicht nur die Vorworte, sondern überarbeitete auch die Texte selbst, so dass das gesamte Œuvre vereinheitlicht und dem Spätstil seiner „major phase“ angepasst wurde (Matthiessen). Damit glättete er sein Romanwerk, das zuvor durchaus deutliche Entwicklungsstadien hatte erkennen lassen.

Als James in den 1870er-Jahren zum Schriftsteller avancierte, teilte er das Konzept realistischen Erzählens mit Émile Zola, Iwan Turgenjew, Lew Tolstoi, Honoré de Balzac und William Dean Howells. Obwohl seine Prosa später deutlich anders werden sollte, teilte er anfangs die Poetik, die die Autorinnen und Autoren des 19. Jahrhunderts mit auktorialem Erzähler, Detailschilderung, closure und gemeinsamem Moralhorizont vorgeprägt hatten. Wie kein anderer englischsprachiger Autor hatte James Anteil an der Entfernung von den herkömmlichen Verfahren der Illusionsbildung im viktorianischen Roman. Sein Werk stellt eine Schnittstelle dar, an der traditionelle literarische Darstellungsmuster auf Innovationen treffen, die sich von realistischen Annahmen und Verfahren verabschiedeten.

Aus seinen kritischen Einlassungen zur Realismusdebatte ist ersichtlich, dass er seine zunehmende Konzentration auf das wahrnehmende Subjekt seiner Texte als eine phänomenologische Zuspitzung des Realismus verstand. Durch seinen Bruder William James war er sowohl mit der philosophischen Phänomenologie als auch mit neueren psychologischen Auffassungen vom Bewusstsein vertraut, für die sein Bruder den Begriff „stream of consciousness“ geprägt hatte. Die Darstellungsform, die James im Spätwerk entwickelte hatte, um dem ‚wahren Realismus‘ des Prozesses der Erfahrung von Wirklichkeit gerecht zu werden, war für seine Leser, wie ein Kritiker sagte „perplexingly unreal“ (Taylor). Er verlor das Massenpublikum, das er noch mit The Portrait of a Lady erreicht hatte. James war modernist geworden.

Was den Zeitgenossen an James’ Romanen besonders auffiel, war seine nuancenreiche psychologische Durchdringung der Charaktere. Seine Erzählungen sind Meisterwerke der Gattung für Leserinnen und Leser, die es schätzen, wenn ihnen im Erzähltext keine expliziten Deutungen aufgezwungen werden, sondern sich der Sinn durch kognitive Mitarbeit im Akt des Lesens erschließt. Mit James setzt sich eine völlig neue Realismusauffassung durch. Der Fokus liegt nicht mehr auf der Entwicklung der Erzählhandlung und des Plots, sondern bleibt weitgehend auf innerseelische Vorgänge von gradueller Entfaltung konzentriert. Dennoch greift die Bezeichnung „psychologisch“ zu kurz, abgesehen davon, dass sie inzwischen auch eine zweifelhafte Wertkategorie ist. James ist eben kein Autor, der Psychogramme seiner Figuren liefern würde oder sie auch nur einer ‚vollständigen‘ psychologischen Erfassung zur Verfügung stellen würde. Vielmehr tritt die psychische Konstitution seiner Charaktere in ihrem (spärlichen) Handeln und in ihren gedanklichen und dialogischen Verbalisierungen indirekt in Erscheinung.

In seinen Meisterwerken der „major phase“ perfektionierte James eine personale Erzählweise, die Ereignisse aus individueller Sicht der Charaktere detailgetreu schildert und deren Deutungsversuche erfasst. Leser werden nicht mehr von einem allwissenden Erzähler in Obhut genommen, vielmehr bekommen sie subjektives Wahrnehmen und Erleben aus erster Hand. Da Jamesʼ Hauptcharaktere stets einfühlsame und intelligente Menschen sind, handelt es sich meist auch um ebensolche Spekulationen über ihre Mitmenschen. So entsteht ein spannungsreiches Netz sich wandelnder intersubjektiver Verhältnisse. James’ bevorzugte Erzähltechnik ist die von Gerard Genette so genannte homodiegetische Fokalisierung, also die Beschränkung eines im Hintergrund vorhandenen auktorialen Erzählers auf die Sichtweise einer Figur. Dass eine übergeordnete Erzählinstanz im Hintergrund vorhanden ist, sehen wir nicht nur an der grammatischen dritten Person und dem erzählerischen Präteritum, sondern auch an distanzierenden ironischen Benennungen der Fokalisierer. In The Ambassadors wird Strether beispielsweise immer wieder als „our hero“ bezeichnet, was er jedoch keineswegs ist.

Da alle Informationen aus der subjektiven Perspektive einer am Geschehen beteiligten Figur wiedergegeben werden, tritt das Gewicht des Plots zugunsten der individuellen Wirklichkeitserfahrung und der subjektiven Erkenntnis- und Verstehensversuche in den Hintergrund. Gleichzeitig geben die zentralen Vermittlerfiguren – „ficelle“ nennt sie James –mit ihren Versuchen, die Beobachtungen und Ereignisse kohärent zu machen, sich selbst allmählich preis. Damit erwächst ein Großteil des Interesses für Leser daraus, Aufschluss über die verdrängten oder verschwiegenen Motivationen der Figuren zu erhalten, also ihre Unzuverlässigkeit zu decodieren und zu verstehen. Dies gelingt zum Beispiel durch die Entschlüsselung einer Interferenz zwischen narrativen und beschreibenden Teilen des Textes, wenn die Körpersprache der beobachteten Figuren ihren Deutungen widerspricht. Aufgrund der strengen Konventionen, die den zwischenmenschlichen Umgang regeln und beschränken, bleibt so vieles unausgesprochen und unterdrückt, dass wir Leserinnen und Leser zu Detektiven der Kognition werden. Die Romane sind psychologische Thriller, deren Herausforderung darin besteht, zu entschlüsseln, was sich wirklich zwischen den fiktiven Charakteren abspielt. Nach anfänglichen Eingewöhnungsschwierigkeiten in die Lektüre ist dies so reizvoll, dass man die Bücher nicht mehr aus der Hand legen kann. Doch letztlich macht es die Perspektivierung unmöglich, einen ‚objektiven‘ Verlauf der Ereignisse oder die ‚tatsächlichen‘ Beweggründe der Charaktere zu rekonstruieren. Somit entsteht ein radikaler epistemologischer Skeptizismus, der James zu einem Lieblingsautor der poststrukturalistischen Literaturwissenschaft gemacht hat. Seine Perspektivierung, seine Akzentuierung der Bewusstseinsvorgänge und seine Thematisierung der gestörten Kommunikation beeinflussten die weitere Entwicklung des Romans nachhaltig.

James’ Stellung als Neuerer und früher Modernist hängt eng zusammen mit einer neuen Art des Sehens, das im Zuge einer radikalen Veränderung der visuellen Kultur im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert entstand. Wie Jonathan Crary gezeigt hat, stellten die zahlreichen neuen visuellen Technologien, optischen Erfindungen, Reproduktionstechniken und die Experimente in der Malerei eine Herausforderung für den Betrachter dar, die eine Anpassung seiner habituellen Sehweisen verlangte. Bekanntlich äußerte Virginia Woolf nach dem Besuch der Post-Impressionisten-Ausstellung von Roger Fry in London „in or about December 1910 human character changed“. Diese provokative Übertreibung zielte auf die Verabschiedung konventioneller Darstellungsweisen, die dort (später als in Paris oder Berlin) zu erkennen war. Die Malerei bot Anschauungsmaterial und die Kunsttheorie Begriffsfelder für die Lockerung der Darstellungskonventionen des Realismus an. Woolfs Feststellung verweist auf die problematisch gewordene Beziehung von sehendem Subjekt und gesehenem Objekt, die bereits in James’ Erneuerung der Romanform im Spätwerk zum Ausdruck kommt. Auch in seinen theoretischen Texten stellt die Malerei über weite Strecken das wichtigste Metaphernfeld zur Erklärung seiner narrativen Vorgehensweisen dar (Winner).

James’ Werk im Zusammenhang mit der Veränderung der Paradigmen des Betrachtens zu untersuchen, ist deshalb besonders spannend und lohnend, weil er sich selbst dieser Veränderung in hohem Grade bewusst war und seine Texte so konstruierte, dass Bildlichkeit und Sehen in den Vordergrund gerückt werden. Der Paradigmenwechsel des Visuellen findet in Jamesʼ Werk Ausdruck an verschiedenen Stellen der narrativen Struktur: in den Textbildern, in der typischen Setzung einer fiktionalen Betrachterfigur im Text, in der ausführlichen Schilderung von fiktionalen Wahrnehmungsprozessen und in der metaphorischen Verbildlichung von Kognition. Dieses foregrounding eines Beobachters und seiner Sehtätigkeit hat James kontinuierlich mit der Malerei und visuellen Artefakten verknüpft.

Die Geschwindigkeitszunahme des Alltagsgeschehens im 19. Jahrhundert führte zu Darstellungsstrategien, die bewegte Ansichten und Blicke wiedergaben und sich somit einer dynamisierten Wahrnehmung annäherten. James’ Großstadtromane enthalten bereits die flüchtige ziellose Mobilität des Flaneurs wie sie Baudelaire im Essay „Le peintre de la vie moderne“ als Ausweis vollkommener Modernität lobte. Aus den Romanen der Hochmoderne, beispielsweise denen von Woolf und Joyce, kennen wir die typische Erzählweise des stream of consciousness, die den unzusammenhängenden Assoziationsfluss und Bilderstrom des individuellen Bewusstseins einzufangen sucht. Typisch für diese modernistischen Erzählungen ist eine fokalisierende Zentralfigur, die das Gefühl eines Treibens im Strom verspürt und einen flüchtigen, instabilen Blick vermittelt. Diese Schreibweise, die Woolf in ihren Romanen bevorzugte, wurde von ihr auch als besonders zeitgemäß begründet und programmatisch gefordert. Bezeichnenderweise wählte sie für diese literaturtheoretische Forderung die Vorstellung einer Begegnung im Eisenbahnabteil. Während draußen die Landschaft vorüberzieht, muss ihr Gegenüber versuchen, sich in den Strom des Bewusstseins einer fremden Person zu versetzen (Woolf).

Soweit verflüssigt ist die fiktionale Wirklichkeit bei James noch nicht. Vielmehr alterniert sie zwischen Handlungs- und Anschauungsraum, wobei das Besondere ist, dass in entscheidenden Momenten die wahrgenommene oder vorgestellte Wirklichkeit bildlich wird. Die Realität konstituiert sich für James’ Charaktere als Bild. In den späteren Romanen verwendet der Autor dieselbe bildliche Darstellungsweise für die Gedanken der Charaktere. Im Gegensatz zum fortlaufenden stream of consciousness der Hochmoderne halten James’ Romane an entscheidenden Stellen die temporale Sukzession an, um eine Szene wie ein Bild zu beschreiben, so dass sich die literarische Visualität zum Tableau verdichtet (Brosch). Manchmal kommt an solchen Stellen tatsächlich eine Gemäldebetrachtung ins Spiel wie in The Wings of the Dove, wo der todkranken Milly ein Bronzino-Portrait gezeigt wird, dem sie ähneln solle. Statt sich über die gemalte Schönheit zu freuen, wie ihr Cicerone erwartet, bricht Milly in Tränen aus, weil sie durch das Gemälde von der Vergänglichkeit berührt wird, die sie mit der Portraitierten teilt. Solche visuellen Tableaux gestalten James’ Romane bis in die Spätphase hinein. Damit bleiben sie einer älteren Visualität verpflichtet, die Erkenntnisprozesse als arretierte Bildlichkeit repräsentiert. Das hängt zusammen mit James’ Bestreben, Gedanken und Gefühle zu erfassen, die noch nicht in propositionalen verbalen Aussagen ausgedrückt werden können und lediglich in der intuitiv-assoziativen Form eines mentalen Bildes angedeutet werden können.

Der Anschauungsraum geht im Erlebnisraum auf, und zwar in der Weise, dass die Anschauung zur höchsten Form von Erlebnis wird. In The Ambassadors unternimmt der von Paris überforderte Protagonist Strether einen Ausflug in die Natur, wo er einen Nachmittag lang ein Landschaftsgemälde mit sich ausdehnendem Rahmen durchwandert. Als Höhepunkt seines Bilderlebnisses und des ganzen Romans erblickt er eine Szene, die die Visualität vervollkommnet: „What he saw was exactly the right thing“. Diese Szene mit einem Paar in einem Boot auf dem Fluss ähnelt unleugbar einem beliebten Motiv der Impressionisten, entspricht also einer neuen, um 1903 aber bereits etablierten malerischen Bildlichkeit, die auf die Wiedergabe des subjektiven Momenteindrucks setzt. Was als ästhetischer Höhepunkt beschrieben ist, stellt sich für Strether als bittere menschliche Enttäuschung heraus, als er in dem Paar im Boot seine Freunde aus Paris erkennt.

Während die viktorianische Illusionsliteratur auf Kausalität und Sinnhaftigkeit ausgerichtet war, müssen Leserinnen und Leser bei James Sinnstiftung und Motivierung imaginativ addieren. Die von ihm eingeführte Perspektivtechnik des Erzählens lieferte mehr Erscheinung als Erklärung, mehr Visuelles als Kausales. Sie heftet die Leseranteilnahme in viel stärkerem Maße an die Anschaulichkeit und stellt eher bildliche Konfigurationen als Kausalzusammenhänge zur Verfügung. Diese Vorgehensweise verkompliziert er dadurch, dass er im Verlauf seiner schriftstellerischen Entwicklung mehr und mehr dazu überging, statt der Wahrnehmung seiner fiktionalen Gestalten deren Vorstellungen bildhaft darzustellen und ihre Bewusstseinsprozesse zu metaphorisieren. Vorstellung und Bewusstsein werden bildhaft, in James’ Spätwerk wird das Mittel der anschaulichen Beschreibung gerade dort angewendet, wo es um metaphorisierte Verstehensprozesse der Figuren geht. Damit sind die Textbilder von ihrer ursprünglichen Funktion, der Vermittlung von Anschaulichkeit, abgerückt.

Die Verlagerung des narrativen Gewichts von Handlung und Ereignis auf Wahrnehmung und Erleben bedeutet auf Seiten des Lesers Mutmaßung statt Wissen. Erzählungen werden kontingent, Ordnungen und Kausalhorizont werden im Leseakt ergänzt. Diese Ergänzung beruht auf den Konventionen der visuellen Wahrnehmung wie sie durch bildliche und bildhafte Darstellungen präfiguriert sind. Es kann als moralische Emanzipation der Leser im Modernismus gesehen werden, dass ihnen die Erklärung der Vorgänge überantwortet werden. Die Verengung des Sichtfeldes von der panoramahaften Überschau eines allwissenden Erzählers auf eine unzuverlässige individualisierte Sehweise kann aber auch als ein Verlust an gemeinsamem Horizont verstanden werden.

Frederic Jameson hat die Durchsetzung der personalen Erzählsituation als ein Zelebrieren des vom Kapitalismus und Kommerz bedrohten Individualismus verstanden. Jameson interpretiert die literarische Subjektivierung als Reaktion auf die tiefe Verunsicherung, die am Übergang vom 19. ins 20. Jahrhundert aufgrund der Infragestellung sämtlicher Glaubens- und Wissenssysteme herrschte und die vom Ökonomisierungs- und Disziplinierungsdruck des Hochkapitalismus verstärkt wurde. Das durch Unterminierung von Grundannahmen in sämtlichen Diskursen zutiefst verunsicherte Subjekt, das sich selbst als fragmentiert und entfremdet empfindet, suche Trost in literarischen Repräsentationen von individualpsychologischer, subjektgebundener Wahrnehmung, obwohl diese figurale Perspektive immer ihre eigene Unzulänglichkeit, weil Nichtübertragbarkeit in sich trägt. Diese kontextualisierende Interpretation ist einleuchtend, doch der darin enthaltene Vorwurf, James habe ein essentialistisches Konzept vom autonomen Individuum aufrechterhalten wollen, trifft nicht zu. James’ Texte sind nämlich in dieser Hinsicht selbst kulturkritisch, weil sie den Zusammenhang von Verdinglichung und Kommerzialisierung unter einer extrem selektierten Perspektive verhandeln. Die Gestaltung eines inneren Erlebnisraums und eines modernen ‚Tunnelblicks‘ ist vielmehr eine Aufforderung zur Distanzierung der Leserinnen und Leser von den Figuren. Wir folgen einer eng gerichteten Aufmerksamkeitslenkung, die immersives, identifikatorisches Lesen verhindert oder zumindest erschwert. Dieses resistente Rezipieren bezieht sich vornehmlich auf die objektivierende Sichtweise von privilegierten Charakteren. In The Golden Bowl werden die superreichen Amerikaner Adam und Maggie Verver, die durch Europa reisen, um Kunstwerke für ein amerikanisches Museum einzusammeln und bei der Gelegenheit noch repräsentative Ehepartner mit auflesen, kaum jemandem als Identifikationsfiguren dienen. Aber der Zusammenhang von Blickregime und Macht wird wohl jedem Leser deutlich anhand der unheimlichen Disziplinierung, die die beiden ihren untreuen, angeheirateten Partnern angedeihen lassen.

Bei der Beschäftigung mit moralischen und ästhetischen Fragen, auf deren Vorrang James immer beharrte, kommt den Bildern und Metaphern seiner Texte besondere Bedeutung zu; an ihnen zeigen sich die ökonomischen und gesellschaftlichen Bedingtheiten der fiktionalen Konflikte. In solchen Artefakten wie den „Schätzen von Poynton“ oder der „goldenen Schale“ scheinen materielle und ökonomische Hintergründe durch, die den Subtext der eleganten Diskurse über feine Nuancen von Verhaltensweisen bilden. Diese Dimension der Texte verknüpft James’ Beharren auf dem visuell Erfahrbaren mit den verdinglichten Verhältnisse der beginnenden Konsumgesellschaft.

Freilich wird man eine eindeutige Stellungnahme gegen die Konsumgesellschaft, den Imperialismus oder die Unterdrückung der Frau in Jamesʼ Werk vergeblich suchen. Doch er erfasste sehr früh, dass der Fortschritt der Technologien, der Kommerzialisierung und der Globalisierung Isolation, Entfremdung, Marginalisierung und dysfunktionale Kommunikation mit sich bringen. Auch wenn er sich nicht auf die Seite der Frauenbewegung stellte, stehen seine weiblichen Charaktere, an denen er die Möglichkeiten und Grenzen weiblicher Selbst- und Lebensentwürfe auslotete, an Komplexität und Einfühlung denen von Autorinnen nicht nach. Zeitgenössische Kritiker sahen in James den Vertreter einer „weiblichen“ Richtung des Erzählens, die im 19. Jahrhundert mit der domestic novel den Markt beherrschte. Seine männlichen ‚Helden‘ sind sensible, kontemplative und passive Menschen, deren typisches Erleben oftmals in sekundären, beobachtenden Empathieprozessen besteht. Aufgrund dieser Umwertung der Genderrollen sowie seiner persönlichen uneindeutigen Sexualität wird James heute vielfach im Zusammenhang mit der Maskulinitätskrise um 1900 und mit den Methoden der Queer Studies gelesen.

Noch wichtiger ist es, dass im Zusammenhang mit der postkolonialen Theorie und dem „ethical turn“ in den Kulturwissenschaften James’ internationales Thema aus seiner früheren Beschränkung auf die bilaterale Begegnung von Europa und den USA befreit wird und der kosmopolitische Zug seiner Kritik an den Anfängen eines amerikanischen Neoimperialimus gesehen wird (Rowe). In den großen Häusern, wo sich seine feine englische Gesellschaft trifft, sind stets Ansammlungen von Spolien der britischen imperialen Eroberung zu besichtigen. Nirgendwo ist der Zusammenhang so deutlich wie in The Wings of the Dove, wo die Hausherrin Mrs Lowder als allegorische Figur der Britannia karikiert wird. Zwar beschränken sich James’ fiktionale Welten auf die Länder, die er selbst bereist hat, doch innerhalb dieser Grenzen zeigt er klar auf, wie viel Kulturimperialismus in den interkulturellen Begegnungen seiner Figuren lauert. Wie John Carlos Rowe demonstriert, äußerte sich James’ Kosmopolitismus ab den 1890er-Jahren in zunehmender Toleranz gegenüber anderen sozialen, sexuellen und ethnischen Identitäten. Rowes Einschätzung gehört zu der jüngsten Forschungsrichtung, die James’ kritische Haltung zur Verflechtung von Ökonomie und Ästhetik betont.

Bibliografie

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Brosch, Renate. Krisen des Sehens. Henry James und die Veränderung der Wahrnehmung im 19. Jahrhundert. Tübingen: Stauffenburg Verlag, 2000.

Cammann, Alexander. „Leidenschaften sterben nie“, ZEIT 32/2014: http://www.zeit.de/2014/32/henry-james-washington-square-wie-alles-kam

Crary, Jonathan. Techniken des Betrachters. transl. Anne Vonderstein. Dresden, Basel: Verlag der Kunst, 1996.

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Taylor, Linda. CF. “Handsomely Illustrated”. Atlantic Monthly 93, 1904, In: Henry James 1866-1916. A Reference Guide. Boston: G K Hall, 1982.

Winner Hopkins, Viola. Henry James and the Visual Arts. Charlottesville: University of Virginia Press, 1970.

Woolf, Virginia. “Mr Bennet and Mrs Brown”. A Woman’s Essays. ed. Rachel Bowlby. London: Penguin, 1992. 69-87.

Hinweis der Redaktion: Der Beitrag ist seit dem 8.3.2016 auch bei Literatur Radio Bayern zu hören.