Keine Hoffnung in Flushing

Atticus Lish erzählt in „Vorbereitung auf das nächste Leben“ von einer Liebe in Zeiten der Hoffnungslosigkeit und schreibt zugleich einen beeindruckenden Großstadtroman

Von Halina HackertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Halina Hackert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In Flushing lebe der amerikanische Traum, schrieb Heike Buchter 2012 in der „Zeit“. Der Schriftsteller Atticus Lish blickt in seinem Debütroman Vorbereitung auf das nächste Leben, für den er den PEN/Faulkner-Award bekam, jedoch skeptisch auf die Einwanderungsgesellschaft und auf eine Stadt, die alles andere als glänzt.

Die uigurisch muslimische Zhou Lei ist von Südostasien über Mexiko illegal in die USA eingewandert. In Queens, genauer im Stadtteil Flushing, wohnt sie in einem schäbigen Verschlag und hält sich mit schlecht bezahlten Jobs in chinesischen Fast-Food-Restaurants über Wasser. Aus Angst vor einer erneuten Verhaftung durch die Einwanderungsbehörde versucht sie so unsichtbar wie möglich zu bleiben und in die Masse derer einzutauchen, die „so illegal wie sie selbst“ sind. Einmal sagt ihr Boss zu ihr: „Das ist Amerika. Jeder kommt mit selber Geschichte hierher. Der eine kommt mit Boot, Fischerboot, der nächste nimmt den Bus, den Lastwagen, versteckt sich […]. Der eine legal, der andere illegal.“ So ist das eben, soll das heißen. Getreu dem Motto: Jeder stirbt für sich allein. Doch Zhou Lei ist eine Kämpferin, die durch das harte Leben in der uigurischen Steppe gestählt wurde, eine Nomadin, die weiß, wie man sich durchschlägt und die notfalls auch weiterziehen würde.

Bis sie Brad Skinner trifft, einen schwer traumatisierten US-Soldaten, der das dritte Mal aus dem Irak-Krieg heimgekehrt ist und auch im zivilen Leben den Krieg nicht mehr vergessen kann. Während er nachts von Alpträumen heimgesucht wird, in denen die abgerissenen Gliedmaßen seiner Kameraden umherfliegen, sitzt er tagsüber brütend in seinem Zimmer oder schultert seinen Kampfrucksack mit der 9-Millimeter-Beretta und streift ruhelos durch die Stadt. Seine äußere Erscheinung ist ebenfalls militärisch stilisiert und zeigt ihn als einen tätowierten, durchtrainierten Mann, dessen große vernarbte Schrapnellwunde auf seinem Rücken davon zeugt, dass er einer von denen ist „die drüben waren“.

Es ist nicht zuletzt diese habituelle Anziehung, die die beiden auf einem Hinterhof aufeinander treffen lässt und das Bild zweier einsamer Krieger nach einer verlorenen Schlacht heraufbeschwört:

„Warum willst du wissen, ob ich in der Army war?“ fragte Skinner.
„Weil in meiner Familie wir Armee sind.“
„Du warst  in der Army? Warum?“
„Nicht ich war. Mein Vater. In der Volksbefreiung von China. Mein Vater war Sergeant.“
„Echt? Bist du deshalb so stark? Du siehst stark aus.“

Die Disziplinierung ihrer Körper durch eine Art military fitness – ständig stemmen die beiden Gewichte, machen Sit-ups, Dips, Burpees, während Zhou Lei in jeder freien Minute durch die Stadt joggt – ist ihr wichtigstes Bindeglied und vereint die beiden Außenseiter im Kampf gegen die Einsamkeit und Fremdheit.

Für einen Moment scheint auch so etwas wie eine gemeinsame Zukunft möglich zu sein und man ist fast geneigt, zu glauben, dass es sich um die „wohl zärtlichste und unsentimentalste Liebesgeschichte dieses Jahrzehnts“ handeln könnte, wie die „New York Times“ schrieb, wäre da nicht die tickende Zeitbombe in Skinners Kopf. Je mehr Zhou Lei um die Liebe kämpft – und sich dabei der Kriegsmetaphorik bedient, wenn sie etwa eine „Zwei-Mann-Armee“ gründen will, eine „Einheit, die gegen die Probleme kämpfte, die sein psychischer Zustand und ihr Status als illegale Einwanderin mit sich brachten“ – desto selbstzerstörerischer und aggressiver wird Skinners Verhalten. Als schlussendlich noch Jimmy, der gewalttätige und xenophobe Sohn von Skinners irischer Vermieterin, auf den Plan tritt und die ohnehin schon fragile Beziehung zu zerstören droht, spitzen sich die Ereignisse dramatisch zu und entladen sich in einem fast shakespearehaften Finale.

Der Roman umkreist viele Themen – von der Einwanderungsproblematik über den Umgang der amerikanischen Regierung mit ihren Kriegsveteranen bis hin zur ausführlichen Symptomschilderung der Posttraumatischen Belastungsstörung – doch New York, vor allem Queens Stadtteil Flushing, bleibt das Epizentrum des Geschehens und ist damit weit mehr als nur eine Kulisse für diese Liebesgeschichte.

Lish beschreibt New York ausschließlich mit einem „Blick von unten“, als eine Stadt, in der sich die Menschen am Rand der Gesellschaft, an der sozialen Peripherie bewegen.

Während die Topographie Queens einerseits zwar konkret und nachvollziehbar ist, werden letztlich doch nur jene Zeichen bedeutsam, die das unmittelbare Leben der Figuren betreffen. Damit ist die Stadt weniger Erinnerungs- als vielmehr ein Überlebensraum, in dem die Umgebung nur noch auf mögliche Gefahrensituationen hin abgescannt wird. Vor allem durch Zhou Lei, die sich den urbanen Mikrokosmos durch Bewegung, durch das Laufen erschließt, bekommt die Stadtwahrnehmung eine unglaubliche Dynamik. „Ich werde schnell sein, dachte sie. Sie werden mich niemals kriegen.“ Im Gegensatz zum Müßiggang eines Flaneurs sind ihre Sinne äußerst geschärft und der Blick auf das Wesentliche fokussiert. Einmal läuft sie auf der Flucht vor Jimmy in einem stundenlang parcours barfuss und hungrig durch die Stadt. Einer Kamerafahrt gleich halten ihre Beobachtungen – sozusagen im Schnelldurchlauf – noch einmal die gesamte Bandbreite des städtischen Elends fest.

All das schildert Lish in einer ungeschönten und schmerzhaft klaren Sprache. Seine dichten Beschreibungen mit einem seismografischen Gespür für die verschiedenen Milieus der Einwanderer, der Gescheiterten und Entwurzelten denunzieren nicht, sondern bilden eine Realität fern aller Sozialromantik ab. Somit entsteht das Bild einer urbanen Krisenexistenz, die entgegen einer friedlichen Diversität angefüllt ist mit Gewalt, Kriminalität, Konkurrenzkämpfen und Hierarchien innerhalb der verschiedenen Ethnien. Die Genauigkeit der Beschreibungen – beispielsweise der Wohnungssuche, des Arbeitsalltags in den Food-Courts oder der Behördengänge – erinnern darüber hinaus an die Detailversessenheit der naturalistischen Literatur, in der jede noch so kleine Banalität erwähnenswert erscheint.

Lish hat während des Schreibens zum Teil aus seinem eigenen Erlebnisreservoir geschöpft. Als Sohn des Lektors Gordon Lish ist er zwar in privilegierten Verhältnissen aufgewachsen, hat sich jedoch mit den unterschiedlichsten Jobs herumgeschlagen. Nach einer kurzen Zeit bei der US-Navy arbeitete Lish als Wachmann, in Fast-Food-Restaurants und lebte ein Jahr in China. Er kennt also das Personal, das er beschreibt und hat die verschiedenen Stimmen seines Romans der Straße abgelauscht und eingefangen. In einem Interview verweist er auf die Recherchen und Gespräche, die er in der Vorarbeit zu seinem Roman geführt hat. Gerade in den chinesischen Restaurants seien viele skeptisch und misstrauisch gewesen, weil sie ihn für einen Mitarbeiter der Einwanderungsbehörde gehalten hätten.

Nicht allen wird Lishs überbordende Detailverliebtheit gefallen – so wird zum Beispiel bei der Aufzählung von Markennamen oder der Fülle der Abkürzungen (ein Glossar ist dem Roman angefügt) übertrieben und auch die falsche Grammatik Zhou Leis nicht immer konsequent eingehalten. Dennoch ist Lishs Roman eine realistische Zustandsbeschreibung mit dokumentarischem Gestus und reiht sich partiell ein in die Großstadtromane der amerikanischen Literatur, die den anderen Blick auf die Metropolen favorisierten. Ob Theodore Dreiser oder John Dos Passos – ihr Blick galt immer den Verlorenen, den Abseitigen, den Outlaws, denjenigen, die den Auf- und Ausbruch erprobten und fast immer deren Vergeblichkeit erfahren mussten.

Titelbild

Atticus Lish: Vorbereitung auf das nächste Leben.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Michael Kellner.
Arche Verlag, Zürich 2015.
540 Seiten, 24,99 EUR.
ISBN-13: 9783716027455

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