Ein Leben mit und für Franz Marc

Die Erinnerungen von Maria Marc sind zum 100. Todestag von Franz Marc, dem „Blauen Reiter“, erschienen

Von Klaus HammerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hammer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vor 100 Jahren, am 4. März 1916, ist Franz Marc bei Verdun gefallen. 1913 hatte er eine Vision der Apokalypse gemalt, wie sie das unschuldige Leben überwältigt, und ihr den Titel „Tierschicksale“ gegeben. Diese tragische Vision von Materie – die Erde, die Pflanzen und Tiere –, von unerbittlichen Energiestrahlen auseinandergerissen und zerstört, erschien damals schon als prophetisch. Wie sich Materie und Leben verbindet, das interessierte Marc. Bei seinen regelmäßigen Aufenthalten in seinem „Blauen Land“ in und bei Kochel am See und seit 1910 im benachbarten Sindelsdorf (im bayrischen Alpenvorland) zeichnete und malte er die Pferde auf den Koppeln. Er verschlüsselte seine Aussage in eine Tiersymbolik, das Tier wurde bei ihm zum Symbol kreatürlicher Zusammengehörigkeit. Marcs Bilder sind Dokumente einer Sehnsucht, die Natur und Mensch befrieden will. Diese Botschaft ist bis heute unverbraucht­ geblieben.

Maria Marc, geborene Franck, war ein Jahrzehnt mit ihm zusammen, überlebte ihn aber vier Jahrzehnte. Zehn Niederschriften ihrer Memoiren befanden sich in dem Nachlass der Witwe, die bisher nur in Auszügen der Öffentlichkeit zugänglich gewesen sind. Brigitte Roßbeck, Autorin unter anderem einer im vergangenen Jahr erschienenen Franz-Marc-Biographie („Franz Marc. Die Träume und das Leben“), hat nun diese zehn Schriftstücke in eine „Lesefassung“ gebracht – „unter strikter Beibehaltung des Originaltons“. Marias Beziehungen zu Franz Marc stehen im Mittelpunkt der Lebenserinnerungen, ihr weiteres Leben als Nachlassverwalterin, ihre spätere Profilierung als zur kunsthandwerklichen Avantgarde gehörende Weberin wird dagegen nur kurz abgehandelt.

In Franz Marc erkannte Maria Franck „zwei entgegen gesetzte Möglichkeiten und Kräfte. Auf der einen Seite fühlte er eine ungewöhnliche Hingabebereitschaft und liebevolle Weichheit, denen seine romantische Neigung entsprang. Andererseits regte sich in ihm eine mit den Jahren immer stärker werdende Sehnsucht nach dem Gesetzmäßigen allen Tuns, dem auch er sich in seinem eigenen Leben zu unterstellen trachtete.“ Und an anderer Stelle: „Im tiefsten Grunde meiner Seele lebte die Gewissheit, dass mein Schicksal unlöslich mit dem seinen verbunden war.“ Sie, die in gutsituierten Verhältnissen in Berlin aufgewachsen war und Musik- und Malunterricht genommen hatte, traf 1905 in München auf Franz Marc, aber der war schon in einer Beziehung zu der verheirateten Annette Simon verstrickt, zu der dann noch die unerwartete Heirat mit der Malerin Marie Schnür hinzukam. Ist Marc einerseits der geschlagene Melancholiker, seinen seelischen Regungen hingegeben, andererseits der zielgerichtete Regisseur der Erotik gewesen? Annette Simon war neun Jahre älter als Marc,  verheiratet mit einem Indologen, Mutter von zwei Töchtern im Kindesalter. Unglücklich in ihrer Ehe, brachte sie viel Verständnis für einen jungen aufstrebenden und lebenshungrigen Künstler mit. Sie und Marc verband mehr als nur eine leidenschaftliche Zuneigung. Aber suchte nicht auch Marie Schnür in Marc mehr als nur einen Pro-forma-Ehemann, um ihr uneheliches Kind zu sich nehmen zu können? Sie beließ es während ihrer kurzen Ehe mit Marc weiter bei Pflegeeltern und wehrte sich vehement gegen die Scheidung des dieser „Scheinehe“ überdrüssig gewordenen Marc.

Vielleicht vermag eine unfertige Skizze Marcs, „Zwei Frauen im Berg“ (1906) – das unvollendete Bild hatte Marc zerstört –, etwas Licht in Marcs Dreiecksbeziehung bringen: Die Expansion und der Erlebnisdrang Marie Schnürs wird durch ihre aufrechte Sitzhaltung und den über die Wiese hingeworfenen Rock mit grellroten Farbflecken vermittelt, auch die Hände sind in Rottönen gehalten. Dagegen liegt Maria Franck im Hintergrund, den Kopf auf den linken Arm gestützt, das Antlitz halb unter dem Sonnenhut verborgen. Die warme Rottönung ihres Gesichts zeigt die ihr eigene Schüchternheit, während das helle Kleid ihr sanfteres Wesen andeutet. Natürlich hatte sich Maria Francks Liebesschmerz noch gesteigert, als Marc wirklich sein Versprechen einlöste, das er Marie Schnür gegeben hatte, und sie heiratete, auch wenn die Ehe nur eine arrangierte sein sollte. Gleich nach der Trauung flüchtete er allein panisch nach Paris, wo ihm die Bilder Vincent van Goghs und Paul Gauguins zur Offenbarung wurden. Abwartend verständnisvoll, aber auch selbstbewusst urteilt Maria: „Ich fühlte, dass er nicht ganz zu mir kommen konnte und auch nicht von mir fortkommen konnte“. Dann wird sie deutlicher: „Seine Welt wurde die meine, während die beiden anderen Frauen fertig abgeschlossene Charaktere gewesen sind, die ihn in ihre Welt hineinziehen wollten“.

Als die Ehe mit Marie Schnür 1908 geschieden wird, scheint die Liebesbeziehung zwischen Marc und Maria Franck schon von Dauer gewesen zu sein. Beide arbeiten jetzt ernsthaft zusammen, wobei sich Maria nun auch als Frau eines Malers zu begreifen beginnt, dessen Werk im Vordergrund steht. Marc befasst sich jetzt mit der Darstellung von Tieren, vor allem von Pferden, aber auch von Bäumen, Sträuchern und Steinen. Die Tiere sollen in der Bewegung, in ihrem ureigenen Rhythmus festgehalten werden. Er übt sich damit in der von ihm beschworenen Reduktion auf die „Wesensform“, ist aber nicht immer mit dem Ergebnis zufrieden – und zerstört drei großformatige Pferdebilder.

Obwohl sich ihre Liebe vertieft hat, wird es Maria und Franz Marc erst 1913 möglich sein, standesamtlich die Ehe einzugehen. Der 1911 unternommene Versuch, heimlich in London zu heiraten, scheiterte an fehlenden Unterlagen. Maria Marc berichtet über die  Künstlerfreundschaft Marcs mit dem sieben Jahre jüngeren August Macke, die sich 1910 entwickelte und der bald die mit Wassily Kandinsky folgen sollte. Marc erhielt auch seine erste Ausstellung in München und konnte mit dem Berliner Kunstsammler Bernhard Koehler ein Arrangement treffen, das ihm erlaubte, unabhängiger zu arbeiten. 1911 fasste Kandinsky mit Marc den Plan zu einem Almanach, in dem sich die Künstler der Moderne zur Kunst der Avantgarde äußern sollten. „Beide liebten wir Blau“, berichtet Kandinsky, „Marc – Pferde, ich – Reiter. So kam der Name von selbst“. Marc wollte die Künstler der Dresdner „Brücke“ kennenlernen, die zu dieser Zeit bereits nach Berlin umgezogen waren. Und Herwarth Walden wurde  in den folgenden Jahren Marcs erfolgreichster Kunsthändler.

Maria Marc urteilt: „Die Freiheit der anderen hat ihn befreit und ihm den Weg zu sich selbst gewiesen.“ In den Werken Marcs wurde immer mehr eine klare Tendenz zur Abstraktion sichtbar, wobei er zu einer völligen Auflösung des Gegenständlichen erst Ende 1913 vordrang, und zwar mit dem Bild „Kämpfende Formen“ (1914) als einem Höhepunkt seiner Bildsprache. Insgesamt waren aber in den Jahren vor dem Krieg die Tiergestalten sein bevorzugtes Sujet.

Als Marc dann in den Krieg zieht, irritiert Maria die in seiner Feldpost aufscheinende Kriegsbegeisterung über alle Maßen. Sie widerspricht seiner Einstellung in ihren Briefen, was sogar ihre Beziehung gefährdet. Erst Mitte 1915 beginnt bei Marc ein Umdenken, es stellen sich nun auch bei ihm ernsthafte Zweifel an diesem Krieg ein. Auf einem Erkundungsritt wurde er am 4. März 1916 Opfer eines Granatschusses.

Zu Lebzeiten ihres Mannes hatte  Maria Marc stets ihr künstlerisches Schaffen der Karriere ihres Mannes untergeordnet. Als er 1914 eingezogen wurde – wir wissen inzwischen, dass er sich nicht als Freiwilliger an die Front meldete –, hörte sie ganz mit dem Malen auf und begann sich hin und wieder der Stickerei nach seinen Motiven zu widmen. Doch sie stickte nicht nur einfach nach, sondern begann bald selbst Vorlagen zu entwerfen. Die Angst um ihren Mann an der Front, schließlich sein früher Tod verweigerte ihr auf lange Zeit die Rückbesinnung auf eigene Kreativität, die Wiederaufnahme ihres eigenen künstlerischen Schaffens. Zu sehr war sie auf sein Werk und den Fortbestand seines Nachlasses fokussiert. 1915 hatte sie ihren Mann noch ängstlich befragt: „Was soll ich leben und anfangen, wenn Du nicht kämst!“ Nach seinem Tod jedoch wuchs sie über sich selbst hinaus. Ihre Lebensaufgabe bestand nun darin, den umfangreichen schriftlichen Nachlass ihres Mannes zu sichten und druckfertig zu machen. In ihrem Heim in Ried, das sie seit 1914 bewohnte, suchte sie zudem ihre eigene Begabung als Weberin weiter zu entwickeln. Die Briefe und Aufzeichnungen Marcs kamen erstmals 1920 bei Paul Cassirer heraus, zwei Jahre später betraute sie den Kunsthistoriker Alois Schardt mit der Aufgabe, eine Franz-Marc-Biographie zu verfassen. Anschließend galt es, die NS-Diktatur zu überstehen, in der 131 Werke von Franz Marc beschlagnahmt wurden. 1950 sollte dann der Kunsthistoriker Klaus Lankheit eine zweite Biographie vorlegen, zu der Maria Marc das  Nachwort verfasste.

Der Ortswechsel 1929 in die Schweiz, nach Ascona, und ihre neue Selbständigkeit haben dazu beigetragen, dass sich Maria Marc wieder auf ihre künstlerischen Quellen besann. Mit 46 Jahren mischte sie sich noch einmal unter die weitaus jüngeren Studierenden in der Webklasse am Bauhaus in Weimar. 1937 kehrte sie in ihr Haus in Ried zurück und errichtete auf ihrem Grundstück eine „Weberhütte“. Die Motive ihrer Webarbeiten waren überwiegend ungegenständlich und abstrakt und zeigen Parallelen zu dem Stil, der in den 1920er-Jahren in Weimar und ab 1927 in Dessau vermittelt wurde: Collageartige Farblandschaften aus ineinander verzahnten Formen. Erst 1952, 30 Jahre nach ihren Anfängen, stellte Maria – zusammen mit Zeichnungen aus Franz Marcs letztem Skizzenbuch – das erste Mal ihre Webarbeiten aus.

Maria Marc vermag es in ihren Lebenserinnerungen, dem Leser die Persönlichkeit Marcs in seinem Wollen und Streben, in seinen Widersprüchen und Polaritäten nahezubringen und zugleich auch sich selbst darzustellen, in ihrer Liebe und Aufopferung, auch in ihrem Selbstmitleid, ihren Verärgerungen, ihren gegenteiligen Auffassungen – etwa dem Krieg gegenüber. Sie wirkt hier als kulturelle Vermittlerin. Die Aufgabe eines Autobiographen besteht ja gerade darin, die Materialmassen in eine Struktur zu bringen, die plausibel und erkenntnisträchtig ist. Maria Marc erschafft in ihrem „Lebensroman“ die nachvollziehbare Wahrheit ihrer Existenz im sukzessiven sprachlichen Vollzug ihres erzählenden Schreibens. Sie psychologisiert wenig, entwirft keine kausalen Begründungszusammenhänge und gibt keine sozialen Erklärungsmuster. Aber sie hat Marc zu Leistungen angespornt, sie hat ihm Wärme, Halt und Schutz gegeben. Sie allein schien auserkoren gewesen zu sein, ihm die Elementarangst zu nehmen – und sich bei diesem Unterfangen gleich selber zu stabilisieren. Sie war eine äußerst kreative Person, und wenn sie sich nicht ganz in den Dienst ihres Mannes gestellt, sondern mehr an sich selbst gedacht hätte, wäre ihr sicher Größeres beschieden gewesen. Aber darum ging es ihr nicht. ‚Dem Leben einen Sinn abgewinnen‘ scheint das Motto von Maria Marc gewesen zu sein. Und den hatte sie im Dienst an Franz Marc gefunden.

Titelbild

Maria Marc: „Das Herz droht mir manchmal zu zerspringen“. Mein Leben mit Franz Marc.
Herausgegeben von Brigitte Roßbeck.
Siedler Verlag, München 2016.
192 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783827500359

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