Vinylträume

Der Bildband „Recorded“ ist ein wunderbarer Reiseführer durch Hamburgs Plattenläden

Von Sascha SeilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Seiler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Auf der einen Seite werden wir derzeit Zeuge des Niedergangs von Popmusik als Kulturträger, begünstigt durch das quasi kostenlose Streaming. Auf der anderen Seite aber erweckt das langsame, aber wohl unumkehrbare Sterben der CD (also des dominanten – lange Zeit auch einzigen – haptischen Mediums, das Musik transportiert) seit etwa zehn Jahren eine wachsende Renaissance der Vinylschallplatte. Ergebnis ist eine gerade aus kulturhistorischer Sicht äußerst interessante Diversifizierung des Rezipientenstamms: Hier der gelegentliche Musikhörer, der früher ein bis drei CDs im Jahr gekauft hat, auf denen vornehmlich Musik von Phil Collins oder Bryan Adams zu hören war, sowie der jugendliche Popfan, der wie schon Generationen vor ihm den neuesten Trends des Massengeschmacks folgt und Kunstfiguren wie Justin Bieber unterstützt. Dieser Hörer wird, aus Desinteresse, aus finanzieller Not, vor allem aber aus Sozialisationsgründen zukünftig wohl ausnahmslos zum Streaming greifen. Musik als Hintergrundbeschallung oder Wegwerfartikel, unterstrichen durch das beliebteste Abspielmedium: das Handy mit seinem katastrophalen Sound.

Dort schließlich der sich als seriös gerierende Musikkenner, der ein Album noch als Gesamtkunstwerk rezipieren möchte und dem letztlich auch der haptische Genuss wichtig ist. Dieser kauft nun seit einiger Zeit mitunter wieder verstärkt Vinyl. Zwar machen Schallplatten trotz immens steigender Absatzzahlen immer noch einen vergleichsweise geringen, einstelligen Prozentsatz der verkauften Musikmedien (ohne Streaming, wohlgemerkt) aus, doch ist das Zielpublikum jenes, welches das Geld besitzt, Tonträger auch zu nicht gerade günstigen Preisen zu erwerben. Dass der Vinylmarkt wieder ernst genommen wird, merkt man an den seit Jahren wachsenden LP-Abteilungen deutscher Elektrogroßmärkte sowie an der überraschenden Beobachtung, dass eine große deutsche Drogeriekette Neuerscheinungen mittlerweile eher auf Vinyl denn auf CD anbietet. 

Doch es ist vor allem ein anderes, kulturell sehr spannendes Feld, was diese Renaissance der Schallplatte eröffnet: Auch Plattenläden haben wieder Hochkonjunktur, zumindest theoretisch. Zwar wird das große Plattenladensterben der letzten Jahrzehnte nicht mehr rückgängig gemacht werden, doch wird man sich der kulturellen Bedeutung jener Orte wieder verstärkt bewusst. Es sind Orte des Austauschs, der Diskussion, der Entdeckung. Es gibt deutsche Großstädte, in denen nur einige wenige solcher Orte übrig blieben, Köln wäre hierfür ein Beispiel, oder aber mittlere Städte, an denen die Vinylkultur fast vollständig vorbeigeht, leider ist Mainz hier ganz oben zu nennen. In Hamburg allerdings lebt diese Kultur weiter; zwar mussten auch hier etliche Geschäfte schließen, doch ist die Dichte an Plattenläden immer noch erstaunlich. Und genau diesen setzt der von Nicolas Christitch und Katrin Vierkant herausgegebene Bildband „Recorded“ ein Denkmal.

Die Herausgeber machen sich in Hamburg auf die Suche nach Plattenläden und ihre oftmals skurrilen Inhaber. Dabei werden jedem Shop mehrere Seiten gewidmet, die immer demselben Aufbau folgen: Zunächst kommen die Inhaber zu Wort und dürfen ausführlich die Geschichte ihres Ladens erzählen, über ihr Verhältnis zur Musik sinnieren und über den kulturellen Mehrwert eines Plattenladens philosophieren. Bebildert werden diese oft witzigen, immer aufschlussreichen Monologe jeweils mit einer Fotostrecke, die Besitzer und Laden zeigt. Darauf folgt schließlich eine Doppelseite auf der rechts 25 Plattencover abgebildet sind und links ein kurzer Kommentar des Ladenbetreibers zu diesen, seinen Lieblingsalben. Gerade diese Idee ist es, die den Band über das Lokalpatriotische bzw. den Liebhaberstatus hinaus interessant macht, dient das Buch doch so nicht nur als Wegweiser durch mehrere Jahrzehnte Musikgeschichte, sondern mitunter auch als Fundgrube. So erkennt sicherlich der Leser in dem einen oder anderen Inhaber aufgrund seiner Auswahl seinen eigenen Geschmack wieder, entdeckt jedoch Alben, die er noch nicht kannte. 

Insgesamt lässt sich sagen, dass dieser äußerst liebevoll gemachte Band, der sich an Musikfreunde aller Art richtet (mindestens) zwei Funktionen erfüllt: Erstens dient er als Wegweiser durch den Dschungel Hamburger Plattenläden und zeigt auch dem spezialisierten Fan, wo er hingehen muss, wenn er sich beispielsweise ausschließlich für Heavy Metal, Jazz, Soul oder elektronische Musik interessiert, denn für alle nur denkbaren Genres gibt es Spezialisten. Zweitens zeigt er aber auch, wie spannend der Plattenladen als Ort nicht nur des kulturellen Austauschs, sondern auch des Bewahrens eines bestimmten kulturellen Erbes sein kann.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Nicolas Christitch / Katrin Vierkant: Recorded. Live in Hamburgs Plattenläden.
Junius Verlag, Hamburg 2015.
231 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783885060574

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