Krieg vor unseren Grenzen

Überall himmelblaue Dixi-Klos – Navid Kermani folgt der Balkanroute der Flüchtlinge in entgegengesetzter Richtung

Von Laslo ScholtzeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Laslo Scholtze

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Er habe gesehen, wie Völker tatsächlich wandern, schreibt der Reporter: „eine lange, nicht enden wollende Kette von kleinen und kleinsten Grüppchen in unterschiedlichen Abständen und wechselnden Anordnungen, mal im Gänsemarsch, mal drei oder vier nebeneinander, […] aber schon mit der ersten Steigung, keine hundert Meter hinter meinem Hotel, gehen die jungen, alleinstehenden Männer voran und fallen die Familien zurück.“

Navid Kermani hat sich im Auftrag des „Spiegel“ gemeinsam mit dem Fotografen Moises Saman in Köln, Budapest, Belgrad, auf Lesbos und in Izmir an der türkischen Westküste dem Treck der Flüchtlinge angeschlossen, mit ihnen gesprochen und versucht, sich ein Bild von ihrer Situation zu machen: Welche Motive oder auch Illusionen treiben sie an? Welche Strapazen, welche Gewalt widerfährt ihnen? Er hat außerdem freiwilligen Helfern zugehört, genauso wie Vertretern der Staatsmacht, von denen übrigens, so Kermani, keiner bestreite, dass Europas Asylpolitik schlicht „ein Wahnsinn“ sei und die Schlepperindustrie massiv befördere.

Er hat seiner Reportage, in Auszügen bereits im „Spiegel“ veröffentlicht, den Titel „Einbruch der Wirklichkeit“ gegeben. Es ist eine Wirklichkeit von Krieg und Not, die mit den Flüchtlingen nach Europa gelangt. Direkt vor unseren Augen, direkt vor unseren Wohlstandsgrenzen. „Teilten früher Standeszugehörigkeiten die Menschheit auf, so sind es heute Staatsangehörigkeiten und Aufenthaltsrechte, die Menschen erster, zweiter und dritter Klasse schaffen.“ Die, die es eigentlich nicht wirklich bräuchten, können auf dem Sonnendeck, Tee trinkend, für ein paar Euro zwischen Griechenland und der Türkei hin- und herreisen. Die, deren Leben davon abhängt, dürfen es nicht oder müssen ihr letztes Hab und Gut an Schlepper abgeben.

Nun laden Flüchtlinge in ihrer Verzweiflung und hilflosen Opferrolle auch dazu ein, sie zu edlen, reinen Geschöpfen zu stilisieren. Dieser Sentimentalität erliegt Kermani nicht. Er ist nüchtern genug, zu sehen, dass gewisse Konstellationen kaum werden gut gehen können: Afghanen aus ländlichen Gebieten ohne Bildung, aber mit illusionären Vorstellungen von ihren Möglichkeiten in Deutschland werden hier Probleme bekommen – oder Probleme machen, je nach Perspektive. Es gehöre wohl zu einer realistischen Politik, schreibt „Einwandererkind“ Kermani, dass diejenigen, die nicht bedroht und gleichzeitig ohne Perspektive nach Deutschland beziehungsweise Europa kommen, abgewiesen beziehungsweise abgeschoben würden.

Er weist auf bedenkliche Folgen der geltenden Asylgesetze hin: Körperlich belastbare, an Entbehrungen gewöhnte (also arme, bildungsferne) Personen würden sich eher auf jene Möglichkeit der Flucht einlassen, die Europa, wie unfreiwillig auch immer, als Letztes noch offen lasse. Wenn Einwanderung und Asyl getrennt voneinander geregelt würden, ließe sich diese ungünstige wie auch ungerechte Selektion anders steuern, so Kermani.

Das Problem und die Stärke des dünnen Bändchens liegen nah beieinander: Einerseits ist derart viel Material zum Thema medial verfügbar, Artikel, Interviews, Bilder, Filmbeiträge, dass man Vieles, was Kermani berichtet, schon irgendwie oder annäherungsweise gehört hat. Andererseits ist Kermani ein Beobachter von seltenem Format und geht über das Gros der Berichte weit hinaus, durch Konkretheit, Einfühlsamkeit und umsichtiger Einordnung. Wie schon in seinem letzten, eindrucksvollen Reportageband befasst er sich mit Menschen im Ausnahmezustand, die gezwungen sind, ohne ihren soziokulturellen, oft auch familiären Kontext zu überleben und einen Rest an Würde zu bewahren.

Viele persönliche Begegnungen und konkrete Details, mal kurios, mal erschreckend, zeichnen den Reisebericht aus: der türkische Offizier, den Kermani mit ausgestrecktem Arm auf die ihren Peinigern ausgelieferten Flüchtlinge aufmerksam macht, und der nur sagt „Zero refugees here“; der fromme Muslim, der seiner Wut über die arabisch-muslimische Welt freien Lauf lässt und meint, Angela Merkels Schuh sei mehr wert als alle arabischen Staatsführer zusammen; der Moment, in dem der stoische kroatische Polizist ein syrisches Mädchen aus dem Wagen hebt und ihm Tränen in die Augen treten; und dann die Dixi-Klos, von Lesbos bis Köln, an jeder Station reihenweise himmelblaue Dixi-Klos: „das Erkennungszeichen europäischer Humanität“. In Kermanis behutsam reflektiertem Bericht fügen sich diese einzelnen Beobachtungen zu einem feinsinnigen, auf subjektive Weise sehr genauen Text.

Im Interview zu seinem Buch im WDR 3 sagte Kermani, er habe bemerkt, dass in den Medien der Anteil der Meinungen immer weiter zugenommen, der Anteil des Wissens beziehungsweise die Kompetenz der Kommentatoren dagegen immer weiter abgenommen habe. Daher habe er sich nicht weiter an der Debatte beteiligen, sondern vor Ort der Wirklichkeit auf die Spur kommen wollen: „Ich wollte sehen.“

Von Betrand Russell stammt sinngemäß der Satz, der ganze Jammer bestehe darin, dass die Dummen so sicher und die Gescheiten so voller Zweifel seien. Kermani, habilitierter Orientalist und hochdekorierter Autor, beschäftigt sich seit 2005 mit der Flüchtlingsfrage. Er sagt: „Ich würde niemals eine Reise unternehmen, ohne nicht vorher extrem viel gelesen zu haben. Das ist die Voraussetzung, damit die Augen etwas entdecken, was nicht sofort sichtbar ist.“ Und er fügt hinzu: „Viele Dinge versteht man ja nicht.“ Diese Haltung ist vielleicht der beste Grund, weshalb man Kermanis Reportage lesen sollte.

Titelbild

Navid Kermani: Einbruch der Wirklichkeit. Auf dem Flüchtlingstreck durch Europa.
Verlag C.H.Beck, München 2016.
96 Seiten, 10,00 EUR.
ISBN-13: 9783406692086

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