Ein zeitloser Magier aus dem Memelland

Eine ansprechende Sammlung berichtet von der Unterschiedlichkeit und Vielzahl der Anregungen, die von Johannes Bobrowski ausgegangen sind

Von Volker StrebelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Strebel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Sarmatien in Berlin ist ein Ding der Unmöglichkeit“ – so schroff legt sich der Herausgeber der vorliegenden Anthologie in seinem ausführlichen Nachwort fest und hat dennoch nicht Recht. Da er dies selbst zu wissen scheint, hat er zu Ehren des Schriftstellers Johannes Bobrowski (1917 – 1965) eine Art Erinnerungsanthologie vorgelegt. Unter dem etwas sperrigen Untertitel „Autoren an, über und gegen Johannes Bobrowski“ versammelt der Herausgeber Andreas Degen einen weitgespannten Umfang von Autoren, die sich über Johannes Bobrowski äußern oder auch von dessen Werk inspiriert wurden.

Johannes Bobrowski wurde am 09. April 1917 in Tilsit, dem heutigen Sowjetsk, geboren. Die Landschaft seiner Kindheit sowie die sich daraus ergebenden Schicksalsläufe bestimmten seinen Weg als Schriftsteller. Das ostpreußische Tilsit liegt an der Grenze zu Litauen und Bobrowski hatte in seinem literarischen Schaffen das Memelland mit dem antiken Sarmatien verquickt, jenem im Dunkel liegenden Reich, dessen europäischer Teil von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer reichte. Schulzeit und Jugend hatte Bobrowski in Königsberg verbracht, dann folgten der Arbeitsdienst sowie die Teilnahme am Russlandfeldzug. Nach seiner Entlassung aus russischer Kriegsgefangenschaft lebte Johannes Bobrowski als Lektor verschiedener Verlage und später des christlichen Unionsverlages in Ostberlin.

Die versammelten Auszüge, Erinnerungen und Gedichte sind naturgemäß von unterschiedlicher Qualität. Zudem betont der Herausgeber Andreas Degen, der sich mit wissenschaftlichen Beiträgen wiederholt zu Bobrowski hervorgetan hat, dass die vorliegende Sammlung kaum Überschneidungen mit „Ahornallee 26 oder Epitaph für Johannes Bobrowski“ aufweist, jener legendären und von Gerhard Rostin herausgegeben Erinnerungspublikation für den Autor, die 1977 in der DDR und 1978 in der Bundesrepublik erschienen ist. Seinerzeit waren Gedichte von Reiner Kunze und dem tschechischen Lyriker Ludvík Kundera der Ostberliner Zensur zum Opfer gefallen.

In der vorliegenden Bobrowski-Anthologie versammeln sich lebhafte Erinnerungen von literarischen Zeitgenossen wie Hubert Fichte, Günter Bruno Fuchs, Bernd Jentzsch, Sarah Kirsch oder Christa Reinig. In Lyrik oder Prosa geben sie Auskunft über eine eindrucksvolle Persönlichkeit voll stiller Melancholie und überschäumender Lebensfreude zugleich. Aus Christoph Meckels „Erinnerung an Johannes Bobrowski“ (1978) findet sich ein Auszug – stark in seiner Beschreibung und geradezu zeitlos in seiner Lebendigkeit. Legendär waren Zusammenkünfte mit Freunden und Kollegen sowie Bobrowskis Spiel auf dem Klavichord in seinem Zimmer, das sich bis in die 1990er -Jahre unverändert erhalten hatte. Leider war das kulturelle Berlin nicht imstande, diese kleine zeitgeschichtliche Museumsinsel zu bewahren.

Bobrowski war ein Solitär, der in der DDR wie in der Bundesrepublik gleichermaßen seine Bewunderer gefunden hatte. 1962 war er durch den Preis der legendären Gruppe 47 für seinen Gedichtband „Sarmatische Zeit“ einem breiteren Lesekreis bekannt geworden. Es ist nicht aus der Luft gegriffen, wenn der russische Germanist Lew Kopelew am 12. Dezember 1971 in einem Brief an Gerhard Wolf davon spricht, in Bobrowski „eine der allergrößten und edelsten Erscheinungen der deutschen und der Weltliteratur“ ausgemacht zu haben.

Bobrowskis früher Tod am 2. September 1965 war für alle ein unerwarteter Schlag. Das Begräbnis des bekennenden Christen Johannes Bobrowski auf dem Friedhof der Evangelischen Gemeinde Friedrichshagen war zu einer gesamtdeutschen Veranstaltung geraten. Neben Hans Werner Richter hatte auch der DDR-Schriftsteller Stephan Hermlin am Grab den angemessenen Ton gefunden: „Die Sprache des Mannes aus Tilsit, dunkel, kräftig, gleichzeitig von vertracktem Humor und unbezwinglicher Melancholie, streckt ihre edlen Wurzeln hin bis zu Klopstock und Hölderlin, Sturm und Drang, Büchners Lenz“.

In den 1960er-Jahren, mitten während des Kalten Krieges, bildeten die dargestellten Welten in Bobrowskis Lyrik und Prosa einen geradezu exotischen Fremdkörper, um nicht gleich von einer realpolitischen Provokation zu sprechen. Ganz gegen jegliche politische Erwartung und Korrektheit in Ost und West hatte Bobrowski mit seinem Werk ein Plädoyer für die Zerbrechlichkeit des Menschen entworfen. Dass dabei die Schauplätze in Ostmitteleuropa angesiedelt sind, unterstreicht die Eindrücklichkeit seines Bemühens, zu oft waren diese topografischen Zwischenräume fremden Machthabern aus dem entfernteren Westen oder auch dem weiteren Osten zum Opfer gefallen.

Heute, ein Vierteljahrhundert nach dem Ende der Ost-West-Teilung und dem Zusammenbruch des „real existierenden Sozialismus“ rüsten sich wieder neue Kräfte, um freie Länder in machtpolitische Pufferzonen zu verwandeln. In unverhohlener Tradition überkommen geglaubten Sphärendenkens werden ganze Landstriche ungefragt jenen zugeordnet, die mit schwerer Bewaffnung aggressiv agieren. Mit oder auch ohne Hoheitsabzeichen.

Johannes Bobrowski hätte das wohl kaum aus der Bahn geworfen und schon gleich gar nicht widerlegt. Er wusste von der Sensibilität eines jahrhundertelangen Zusammenlebens verschiedener Mentalitäten und Völker, sowie deren Anfälligkeit für vollendete Antworten militärischer Art.

Titelbild

Andreas Degen (Hg.): Sarmatien in Berlin. Autoren an, über und gegen Johannes Bobrowski.
vbb Verlag für Berlin-Brandenburg, Berlin 2015.
192 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783945256312

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