Das poetische Gewissen Russlands

Der erste Band einer Werkausgabe von Boris Pasternak erschließt ein von tiefer Menschlichkeit geprägtes poetisches Denken

Von Volker StrebelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Strebel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der russische Schriftsteller Boris Pasternak (1890-1960) wird in erster Linie mit seinem weltberühmten Roman „Doktor Schiwago“ in Verbindung gebracht. Da dieses Buch in seiner Heimat nicht erscheinen durfte, wurde es 1957 im Ausland veröffentlicht. Ein Jahr später erhielt Pasternak den Literaturnobelpreis. Aufgrund massiven politischen Drucks erklärte Pasternak damals seinen Verzicht auf diese Auszeichnung, die er ausdrücklich für sein gesamtes literarisches Werk erhalten hatte.

Auch in diesem Vorgang erwies sich die ganze Tragik eines Schriftstellers in Russland. Bereits am Schicksal Alexander Puschkins hatte sich gezeigt, dass ein Dichter, sofern er nicht den Herrschenden nach dem Munde redet, nur unter erschwerten Bedingungen existieren kann. Zur Bedrohung und auch physischen Vernichtung kritischer Geister trat in den Jahrzehnten der Sowjetdiktatur noch die Devastierung der russischen Kultur hinzu. Mit Auswirkungen, die bis in die unmittelbare Gegenwart hineinreichen.

Es ist der Herausgeberin und Übersetzerin Christine Fischer zu verdanken, dass eine auf drei Bände angelegte Pasternak-Werkausgabe das Geheimnis dieses immer noch weitgehend unbekannten Dichters zu erschließen hilft. Der vorliegende erste Band „Meine Schwester – das Leben“ beinhaltet neben früher Lyrik und vier Erzählungen auch zwei ausführliche Briefe. Eine geschickte Komposition der Herausgeberin, wie sich erweist, zumal sich die kennzeichnenden Eigenheiten der Dichtungen Boris Pasternaks bereits früh abzeichneten.

Auf diese Weise gelingt ein ausgezeichneter Zugang zu einer russischen Stimme von außerordentlicher Bedeutung. Ein behutsamer Anmerkungsapparat sowie ein kundiges Nachwort helfen dabei, die Texte in ihrem Entstehungskontext zu verankern.

Boris Pasternak entstammte einer gebildeten jüdischen Künstlerfamilie. Der Vater Leonid Pasternak war als Maler über die Landesgrenzen hinweg hoch angesehen. Er war mit führenden Dichterpersönlichkeiten in Russland persönlich bekannt, unter anderem hatte er Erstausgaben von Romanen Leo Tolstojs illustriert. Die Mutter, Rosalinda Kaufman, hatte eine Karriere als Pianistin ihrer Familie zuliebe aufgegeben. Auch Boris hatte ursprünglich seinen Lebensweg in der Musik gesehen.

Allen Gattungen von Pasternaks Schaffen, der Lyrik, den Briefen wie auch der Prosa, ist ein etwas spröder Stil zueigen, der Einblicke in Pasternaks Ringen mit sich selbst und seiner Stellung in der unmittelbaren Gegenwart zulässt. Zugleich liegt dieser Eigentümlichkeit auch ihre Anziehungskraft auf den Leser zugrunde. Pasternaks poetische Auskünfte gehen durchaus zögerlich vonstatten. Er ist kein Dichter ewiger Weisheiten. Die semantische Offenheit, mit der Pasternak sich selbst und seine Wahrnehmung der Dinge zu Sprache gerinnen lässt, ist zeitlos.

Bei den aufgenommenen Erzählungen „Die Apelleslinie“, „Briefe aus Tula“, „Ungeliebtsein“ und „Shenja Lüvers’ Kindheit“ hat die Herausgeberin auf bereits vorliegende Übersetzungen zurückgreifen können. Auch die Gedichtsammlung „Meine Schwester – das Leben“ in der gekonnten Übersetzung von Elke Erb ist an anderer Stelle bereits veröffentlicht worden. Am Beispiel dreier Gedichte wird neben Erbs Übersetzung eine Übertragung von Christine Fischer abgedruckt, was einen besonderen Reiz ausmacht. Christine Fischer hat sich die Übersetzung der frühen Lyrik Pasternaks vorgenommen und unterstreicht somit neben der Herausgabe und Zusammenstellung ihre großen Verdienste um das Werk Boris Pasternaks.

Bei allen Anleihen und Experimenten, die sich in Pasternaks früher Dichtung finden, zeigen sich zugleich kennzeichnende Wesensmerkmale seiner künstlerischen Handschrift. Kulturell umfassend gebildet liebte es Boris Pasternak zugleich, sich der Natur mit ihren Elementen zuzuwenden.

In einer gleichsam organischen Verbindung finden die Jahreszeiten, die Luft und auch Tiere Eingang in Pasternaks Verse. Zugleich gelingt es ihm, in dieser Zone der elementaren Kräfte Rückschlüsse auf den Sinn des menschlichen Daseins wie auch auf seine eigene unmittelbare Existenz zu gewinnen.

Im Gedicht „Nach dem Regen“ eröffnet bereits die erste Strophe feine Querverbindungen: „Noch drängelt am Fenster das welkende Laub, / Noch liegt auf den Wegen der Himmel, der Wüterich; / Doch welch eine Stille! … Auch wenn mans kaum glaubt – / Sogar die Gespräche sind anders und gütiger“.

Boris Pasternaks genaues Hinsehen brachte Poesie und Wahrheitsliebe in ein vitales Spannungsverhältnis. Auch in dieser Hinsicht verkörperte Pasternak den freien Geist und die besten Traditionen russischer Zuneigung zum lebendigen Menschen. Hier wurzelte auch letztlich der Konflikt mit den Machthabern seiner Zeit, denn Lüge und Zynismus waren Pasternak fremd!

Titelbild

Boris Pasternak: Meine Schwester – das Leben. Werkausgabe Band 1. Gedichte, Erzählungen, Briefe.
S. Fischer Verlag, Frankfurt 2015.
336 Seiten, 24,99 EUR.
ISBN-13: 9783596950188

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