Das Gegenteil von normal

Christoph Möllers wechselt den Blickwinkel auf das Phänomen der Normen – und schafft so eine ebenso intelligente wie bereichernde Theorie unseres Zusammenlebens

Von Sebastian MeißnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sebastian Meißner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Kinder und Frauen zuerst“: Dass der Mensch sich in extremen Notsituationen auf die bevorzugte Behandlung des weiblichen Geschlechts und des Nachwuchses geeinigt hat, mag seine Begründung in dem Wunsch haben, die Nachkommenschaft zu sichern. Per se natürlich ist dieses Verhalten aber nicht. Im Gegenteil: Männer, die diese Maxime befolgen, unterdrücken ihren natürlichen Überlebenstrieb. Sie opfern sich. Eine solche Handlungsweise kann nur mittels der ihr zugrundeliegenden normativen Vereinbarung erklärt werden. Für Normen dieser Art gibt es in unserem Alltag unzählige Beispiele. Wir finden sie in Form von Benimmregeln, Gesetzen, moralischen Geboten und Vorschriften, Standards, Wertungen und Identität. Sie alle werden durch äußeres, gesellschaftlich wahrnehmbares und bewertbares Verhalten sichtbar. Und sie überlagern in vielen Fällen die Natur, die Realität.

Christoph Möllers, der an der Humboldt-Universität Berlin Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie lehrt, hat sich in seinem Buch „Die Möglichkeit der Normen“ eingehend mit diesem Phänomen beschäftigt. Sein Bestreben ist es, eine Wirklichkeitswissenschaft normativer Praktiken zu entwerfen. Statt sich also an der Frage abzuarbeiten, wie eine Norm sein sollte, widmet er sich der Frage, was eine Norm eigentlich ist. Er tut dies mit dem Ziel, einen begrifflichen Rahmen für soziale Normen zu entwickeln, der „hinreichend weit für unterschiedlichste Phänomene ist, ohne konturenlos zu werden“. Bislang hat die Wissenschaft, etwa aus dem Umkreis von Jürgen Habermas oder Niklas Luhmann, sich eher der Legitimation von Normen oder Verfahren gewidmet. Möller leitet seine Überlegungen aus den Defiziten dieser Normativitätskonzepte ab.

Über Normen ist wenig bekannt

Denn er hat recht, wenn er gleich im ersten Satz feststellt: „Wir wissen von Normen so wenig, weil wir so sehr damit beschäftigt sind, sie zu rechtfertigen.“ Es falle uns schwer, unser Vorstellung von dem, was eine Norm ist, zu trennen von dem, was sie sein sollte. Genau das aber will Möller zeigen. Ein Großteil seiner Arbeit besteht folglich darin, die Vielfältigkeit, Komplexität und Hybridität der normativen Praktiken der Gesellschaft aufzuzeigen. Mit großer Sorgfalt und Spitzfindigkeit legt er offen, wie soziale Normen in der Praxis operieren. Er zeigt, wie sie eingeführt und durchgesetzt werden, was die Formalisierung von Normen verlangt und welche Unkosten dabei anfallen. So verschafft er dem Leser einen verblüffenden Blick auf den Alltag unserer Gesellschaft.

Der Autor stellt Normativität als eine soziale Praxis dar, die unser Handeln und Denken nicht beschränkt (etwa durch Verbote oder Vorgaben). Im Gegenteil: Ihre Wirkungskraft besteht ihm zufolge vor allem in der Möglichkeit, sich dank ihrer der Realität zu verweigern und eine Alternative zum bestehenden Weltzustand zu schaffen. Normativität stellt laut Möller „eine Gegenwelt als Teil der Welt“ dar. Sie kreierten eine Spannung zur Realität, die sie mit sich in Einklang zu bringen suchen. Dabei dürfen sie sich von dieser Realität weder völlig dissoziieren noch ganz mit ihr eins werden, um als Normen funktionieren zu können. Welches Potenzial Möller darin sieht, verrät schon der Untertitel seines Buches: „Über eine Praxis jenseits von Moralität und Kausalität“. Er schreibt den Normen also eine potenziell destabilisierende Wirkung zu.

Aufforderung zum Regelbruch

Es ist ein ebenso origineller wie beglückender Gedanke, der unser oft angespanntes Verhältnis zum Regelwerk des Zusammenlebens zwischen Sollen und Können zu entspannen vermag. Die Norm verweist eben auch auf alternative Möglichkeiten des Handelns, die die Norm brechen. Überhaupt sieht es Möller als unerlässlich an für einen angenehmen Umgang mit der Praxis des Normativen, sich nicht nur um die Verhinderung, sondern auch um die Ermöglichung von Normbrüchen zu kümmern. „Denn nur da, wo Normen gebrochen werden können, bewahren sie ihre Normativität. Und nur da, wo Normen operieren, können wir über das hinauskommen, was wir ohnehin sind.“ Interessant ist auch der Hinweis auf die begrenzte Gültigkeit von Normen, veranschaulicht etwa am Beispiel immer neuer Vereinbarungen zur Begrenzung der Erderwärmung.

Möllers Theorie ist anspruchsvoll, seine Sprache präzise. Seine Überlegungen konzentriert er vor allem auf die Bereiche Recht, Religion und Kunst. In allen Bereichen erfordert die Bewusstwerdung eine Distanzierung vom Offensichtlichen. Eine Mühe, die belohnt wird. Die Kapitelstruktur (Probleme, Begriffe, Erträge) zeigt den Weg dazu auf. Möller fordert im letzten Kapitel ein empirisches Forschungsprogramm und spricht die Empfehlung aus, die empirische Erforschung von Normen mit kleineren Phänomenen zu beginnen. Praktiken wie das Zitieren, die sich als für formalisierte Normenordnungen bedeutsam erwiesen haben, seien für das empirische Forschungsdesign besonders geeignet. Das mag stimmen. In dieser Herangehensweise liegt jedoch auch eine zentrale Schwäche des Buches. Denn so nachvollziehbar und aufregend Möllers Ansatz ist, Normen als Begünstiger für Möglichkeiten, als Verwirklichungsmarkierungen zu beschreiben; in der Praxis sind sie eben doch oft das Gegenteil davon – ob direkt oder indirekt. Auf diesen Aspekt geht der Autor aber nicht ein.

Ein weiteres Problem ist sein Bestreben, eine Rechtfertigungsdimension für Normen zu negieren. Dabei wertet auch er Normen, weist ihnen zum Beispiel positive Eigenschaften zu. Dabei sind Wertungen immer auch Rechtfertigungen. Hier bleibt er eine genauere Erklärung schuldig. Trotz dieser unbeantworteten Fragen ist Möllers ein bahnbrechendes Buch gelungen, das den Blick auf unser gesellschaftliches Zusammenleben verändern und die Forschung in diesem Bereich nachhaltig prägen wird. Nicht zuletzt ist es eine Anregung zum Perspektivwechsel, der die Welt zuweilen vollkommener macht.

Titelbild

Christoph Möllers: Die Möglichkeit der Normen. Über eine Praxis jenseits von Moralität und Kausalität.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2015.
462 Seiten, 34,95 EUR.
ISBN-13: 9783518586112

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch