Große Themen in leisen Tönen

Zu „Ava oder Die Liebe ist gar nichts“ und „Unschuld kennt keine Verjährung“ von Günter Ohnemus

Von Anne Amend-SöchtingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anne Amend-Söchting

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Hinter dem defätistisch anmutenden Titel Ava oder Die Liebe ist gar nichts (2014) von Günter Ohnemus verbirgt sich die Geschichte des alternden Schriftstellers Tom alias Gerald, der zu Beginn des Romans vor dem Café Anna in München auf seine ehemalige Geliebte Gloria wartet. Sie lebt in Paris und arbeitet dort als Spionin für die NATO. Nach neun Jahren Funkstille tritt sie wieder in Toms Leben und erklärt ihm, dass sie fortan bei ihm in München wohnen und auf die Arbeit bei der NATO verzichten wolle. Nach erfolgreicher Wohnungssuche teilen die beiden Tisch und manchmal auch Bett, gehen auf Partys und Vernissagen, um sich dort ausgiebig im Smalltalk zu üben. Nebenbei führen sie Diskussionen über tagesaktuelle Ereignisse und lassen ab und zu alte Zeiten Revue passieren. Aus diesen Rückblenden wird deutlich, dass die beiden vor 21 Jahren eine Tochter hätten haben können, einmal, als Gloria dachte, dass eine Schwangerschaft nicht ausgeschlossen sei. Ava hätten sie diese genannt, in Erinnerung an die große Schauspielerin Ava Gardner.

Außerdem schreibt Tom an seinem neuen Roman und Gloria erhält das Angebot, an einem Film über die NATO mitzuarbeiten. Mit von der launischen Partie des Plots ist zum einen Pat, eine Frau, zu der der Protagonist fortlaufend Kontakt hat, bei der er normalerweise Weihnachten feiert, und nicht zuletzt Nina, eine bücher- und sockenstehlende Juristin, die Jahrzehnte jünger als Tom ist. Nachdem er kurz vor Weihnachten mit ihr Schlittschuh gelaufen ist, trifft er sich regelmäßig mit ihr und weicht zum ersten Mal seit langer Zeit von seiner Gewohnheit ab, den Heiligabend bei Pat zu verbringen. Mit Nina erfährt er so etwas wie „halkyonische Tage“, über die er in anderem Zusammenhang mit Gloria gesprochen hat.

Ava oder Die Liebe ist gar nichts kommt als realistische, stilistisch schnörkellose Studie des Alltags daher. Sie ist gespickt mit Zitaten aus dem Englischen und einer Fülle an intertextuellen und intermedialen Verweisen, vor allem Reminiszenzen an das Medium Film – inhaltlich nur vordergründig, erinnern die Sprünge von einer Szene zur nächsten jedoch formal an eher filmtypische Reihungen. Dabei entscheidet sich Ohnemus für einen konsequent personalen Erzähler, der dem Protagonisten folgt und ihn durch eine hohe Dichte an Dialogen schickt. Parataktische Strukturen dominieren, aus denen immer wieder einmal das Leitmotiv „Yes, we have no bananas“ aufscheint. Über die intentionale Tragweite des Zitats darf man spekulieren.

Glorias und in erster Linie Toms Alltag vollzieht sich im Dunstkreis vieler interessanter und durchaus anspruchsvoller Kleinigkeiten. Das Wesentliche jedoch verliert seine Konturen, das Abgründige, das Traumatisierende darf nicht angetastet werden. Das, so erfährt man gleich zu Beginn, ist an zwei Selbstmorde gekoppelt: Sowohl Toms Mutter als auch seine Cousine Julia, in deren Familie er nach dem Tod der Mutter aufwuchs und mit der ihn eine inzestuöse Beziehung verband, haben sich das Leben genommen. Selbst in einer Therapie konnte Tom nicht darüber sprechen. So begibt er sich in eine intellektuelle Spielerei, die die abgründige Tragik des Daseins vergessen macht, in ein „divertissement“, eine Zerstreuung, die paradoxerweise von seinem „ennui“ ablenkt. Viele Mosaiksteine, die sich nicht zu einem großen kohärenten Ganzen fügen, indizieren jedoch immer Sehnsucht und verdichten sich zu dem Bild von Julia, das er in sich trägt. „Tom, du hast Julia konserviert“, so lautet Glorias Fazit, das den Blickwinkel zeigt, aus dem heraus Toms Leben zu definieren ist.

Toms Geschichte hätte spannend werden können, wenn den Ködern, die zu Beginn sehr vielversprechend ausgelegt wurden, in stärkerem Maße Aufmerksamkeit gezollt worden wäre. Ohnemus verspielt die Chance des wirklich Packenden durch eine Überfülle an Details. Er bearbeitet das Schweigen mit mancherlei Füllstoff, ohne es zu brechen. All das hat einen gewissen Charme. Leider nur ist dieser schwer mitteilbar.

Im Vergleich dazu gibt sich der Mehrgenerationenroman Unschuld kennt keine Verjährung (2015) von Anfang an kraftvoll und mitreißend. Ein gut konstruierter und erkennbarer Plot mit hohem Aktualitätsbezug stellt den 16-jährigen Ich-Erzähler Frederick Jerome in den Mittelpunkt, dessen wohlhabende Unternehmerfamilie hugenottischer Abstammung ist. Nachdem seine Mutter bei einem Unfall mit einem suizidalen Geisterfahrer zu Tode gekommen war, wurde er von seinem Großvater allein aufgezogen. Sein Vater, der für den späteren Tod des Geisterfahrers verantwortlich gemacht wurde, musste sieben Jahre im Gefängnis verbringen, obwohl die Schuldfrage nicht eindeutig zu klären war.

Fred erzählt, dass seine Freundin Lea ihn auf den Fall Kai Turner aufmerksam gemacht hat. Dessen Geschichte, so expliziert Ohnemus in einer kurzen Notiz am Ende seines Romans, folgt der Biografie des Deutschen Jens Söring. Weil ihm seine Lebensgefährtin die Mitschuld am brutalen Mord an ihren Eltern gab, sitzt dieser Mann seit mehr als 20 Jahren in einem amerikanischen Gefängnis. Nur mit knapper Not ist er der Todesstrafe entgangen. Fred und Lea beschließen, aktiv zu werden („es bewegt sich nur etwas, wenn wir uns bewegen“) und Kai Turner zunächst im Gefängnis zu besuchen. Alle dafür notwendigen Kontakte laufen über den weltgewandten Großvater, mit dem sie am Ostermontag 2013 an der Pforte des Gefängnisses in Virgina stehen, dort jedoch abgewiesen werden, weil Turner in eine andere Haftanstalt, verlegt worden ist. Lea erleidet daraufhin einen Nervenzusammenbruch.

Alle Diskussionen über Recht und Unrecht, mit der Integration weiterer juristischer Fallstudien, laufen so gut wie immer im Spiegel des Urteils dreier Generationen ab. Im Mittelpunkt stehen Gespräche über die Todesstrafe und die Notwendigkeit, sich gegen sie einzusetzen. Dies hat im hohen Maße Appellcharakter und lässt den Text zu einer Parabel beziehungsweise einem Lehrstück avancieren, das dazu auffordert, es seinem Autor, der sich seit einigen Jahren aktiv gegen die Todesstrafe einsetzt, gleichzutun. Der Roman wendet sich gegen das Morden im Namen des Gesetzes, gegen einen, so wie es der Großvater zu Recht formuliert, „eiskalten, geplanten, von langer Hand vorbereiteten Mord“. Mit der quasi subkutan präsenten, unter der Textoberfläche immer mitschwingenden Tat des Vaters – nämlich den Verantwortlichen für den Tod der Ehefrau so lange durch das Gebirge zu jagen, bis dieser in den Abgrund stürzt –, kommt jedoch auch die Frage der Selbstjustiz mit ins Spiel.

Die lebendige Gesprächskultur in der Familie, die sich im Roman sukzessive um einige Frauengestalten, Freundinnen und Geliebte des Großvaters erweitert, bedingt nicht zuletzt die Entwicklung des Protagonisten. Fred interessiert sich für politische und vor allem juristische Fragestellungen, erlangt Kenntnis über weitere strittige Fälle und überlegt letztendlich Jura zu studieren, um Richter am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu werden.

Auch in Unschuld kennt keine Verjährung ist ein Leitmotiv zu finden – der tendenziell exotische Begriff der serendipity, „Serendipität“, „die glückliche Gabe etwas zu finden, wonach man gar nicht gesucht hat“. Ein solcher produktiver Zufall zeichnet für die Erfindungen und Patente des Großvaters und seiner Vorfahren verantwortlich, lassen sich aber ebenso auf die „trouvaille“ des Falls Jens Söring/Kai Turner beziehen (sowohl extra- als auch intrafiktional). Auf einer allgemeineren produktionsästhetischen Metaebene, mit leicht negativem Touch, weist „serendipity“ auf einige aleatorisch erscheinende Details, deren „lose Enden“ man gerne mit der Haupthandlung verquickt gesehen hätte: Woher rührt die Idee, den Bericht des Protagonisten als Brief an Bessie Walker zu deklarieren? Die Amerikanerin, die eigentlich ein Austauschjahr in München bei den Jeromes verbringen wollte, war ursprünglich als Fluchthilfe gedacht, weil Lea und Fred Kai Turner zu befreien beabsichtigten. Dass diese Adressatin plötzlich nicht mehr relevant ist, Flucht hin oder her, lässt die Leser unbefriedigt zurück. Ähnlich verhält es sich mit Tina, der Geliebten des Großvaters, die angeblich schwanger ist und zum Großvater ziehen wird.

Doch trotz dieser Kritikpunkte ist Unschuld kennt keine Verjährung ein gut lesbarer Roman für Jugendliche und Erwachsene. Er regt an nachzudenken über eine gleichermaßen ethisch-moralische und politische Frage, die ihren Aktualitätsbezug vermutlich nie verlieren wird.

Zwar erscheinen Ava oder Die Liebe ist gar nichts und Unschuld kennt keine Verjährung zumindest auf den ersten Blick recht divergent. Bei näherer Betrachtung allerdings zeigen sie auf verschiedenen Ebenen eine Reihe von Gemeinsamkeiten, die in die Richtung eines Ohnemus‘schen Inventars, nachgerade eines „mythe personnel“, deuten. Die Zahl 27 ist hier zu nennen, eventuell als popkulturelle Referenz („Club 27“). 27 Jahre wollen Gloria und Tom immer alt sein und 27 Jahre hat Turner in seiner Gefängniszelle verbracht. Auffallend ist zudem die immer wieder scherzhaft behandelte Frage, ob die Erde eine Scheibe oder eine Kugel sei. Erwähnen sollte man schließlich die in beide Romane eingefügten facettenreichen intermedialen Bezugspunkte genauso wie die Parataxe und die Dialoge. Und: Die Charaktere lassen Tiefen erahnen, Ohnemus versäumt es jedoch, sieht man vom Großvater in Unschuld kennt keine Verjährung ab, diese aus dem Gemenge an Allusionen herauszuarbeiten, ihnen mehr Plastizität zu verleihen und damit auch den Lesern verbindlichere Deutungshinweise zu geben.

Ohnemus behandelt die großen Themen der Menschheit in leisen Tönen. Das hat eine gewisse Attraktivität, die jedoch leider nicht ästhetisch elaboriert wird, sondern eher im Sinne eines Impulsgebers zu sehen ist. Leider entsteht kaum Spannung. Auch eine sprachlich anspruchsvolle Ausarbeitung beziehungsweise hohe ästhetisch-stilistische Wertigkeit bleibt zu vermissen. In letzter Konsequenz ergibt sich eine Art Hybrid zwischen Story und formalem Anspruch. Die Romane haben von beidem etwas, aber von beidem nicht genug, um auf Dauer Interesse wecken zu können. Im Gegensatz zu Ava oder Die Liebe ist gar nichts punktet Unschuld kennt keine Verjährung jedoch mit deutlichem authentischen Engagement, das unbedingt wertzuschätzen ist.

Titelbild

Günter Ohnemus: Ava. Oder Die Liebe ist gar nichts.
Verlag C.H.Beck, München 2014.
237 Seiten, 18,95 EUR.
ISBN-13: 9783406659669

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Günter Ohnemus: Unschuld kennt keine Verjährung. Roman.
Maro Verlag, Augsburg 2015.
191 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783875124651

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