Geschichten aus einer versunkenen Welt

Anna Galkina beschreibt in ihrem Prosadebüt „Das kalte Licht der fernen Sterne“ eine Kindheit und Jugend im sich wandelnden Sowjetreich

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es fängt ziemlich harmlos an. Nach 20 Jahren an den Ort ihrer Kindheit und Jugend zurückgekehrt, gibt sich Nastja, die Ich-Erzählerin von Anna Galkinas Debütroman Das kalte Licht der fernen Sterne, ihren Erinnerungen hin. Aneinandergereihte kleine und pointierte Anekdoten beschwören ihr Leben in einem Städtchen nahe Moskau herauf. Der zeitliche Hintergrund jener poetischen, bildstarken und sprachlich konzentrierten Reminiszenzen an inzwischen nicht mehr Existierendes reicht dabei von den 80er-Jahren des letzten Jahrhunderts bis an die Jahrtausendwende heran.

Aufgewachsen mit Mutter und Großmutter in einem hauptsächlich aus Holz erbauten kleinen Häuschen – bei Gewitter sitzt man, mit Pass und Geburtsurkunde ausgerüstet, fluchtbereit in der niedrigen Stube –, ist Nastjas tägliches Leben zwischen Plumpsklo und Brunnen am Ende der Straße, Stromausfällen und 1. Mai-Paraden, heißen Sommer- und eiskalten Wintertagen hart, entbehrt in der Rückschau aber nicht einer gewissen Romantik: „Unser Haus ist voller Geheimnisse. Sie sind wie abgebrochene Sätze, unvollendete Geschichten, wie Punkte oder Gedankenstriche, wie Fragezeichen, wie ein leiser Widerhall längst vergangener Zeiten, wie stumme Zeugen des Lebens vor meiner Geburt.“

Einige dieser Geheimnisse lüftet, einige der unvollendeten Geschichten erzählt die Autorin. Dabei rücken zunehmend Alkoholismus und Gewalt, Ausweglosigkeit und das Gefühl, im Stich gelassen worden zu sein, in den Mittelpunkt. Bereits im Kindergarten setzt es Prügel von unerbittlichen Erzieherinnen, die den Schwachen nicht beistehen, sondern für die Aufrechterhaltung der bestehenden Hierarchie bestialische Mittel einsetzen. Zwischen fröhlichem Gesang – „Die Texte unserer Lieder ähneln sich alle sehr. Meist wird der lieben Partei für die glückliche Kindheit, die Sonne über dem Kopf und unsere wunderschöne Heimat gedankt.“ – und dem gemeinsamen Einschlagen auf ein gedemütigtes Kind – „Die Kinder lachen […]. Die Erzieherin ist zufrieden. Ungefähr wie ein Geier, der sich endlich satt gegessen hat.“ – liegen oft nur Minuten.

In der Schule setzt sich dieser Verrohungsprozess fort. Hinzu kommen erste Erfahrungen mit Sexualität – Exhibitionisten sind für das siebenjährige Mädchen alles andere als Ausnahmeerscheinungen – und Freundinnen, die sich prostituieren und Nastja mit Drogen bekannt machen. Der Staat, obwohl über Militär- und Politerziehung eigentlich immer präsent, scheint fern. Wichtiger ist die Kneipe „Drei Ferkel“, aus der schon zur Mittagszeit die Betrunkenen torkeln, um junge Mädchen zu belästigen.

Nahe Moskau und doch fernab all der wunderbar klingenden Parolen vom Leben in einem reichen Land, das erst den Kommunismus und später, nachdem die Gorbatschow’schen Reformen die Wende zur Marktwirtschaft eingeleitet haben, das Leben in einer freien, demokratischen Gesellschaft zum Paradies erklärt, ist der Übergang vom einen zum anderen in Nastjas Heimatstädtchen kaum zu spüren. Stattdessen herrscht hier weitgehend Kontinuität: Kontinuität bezüglich des Alkoholismus, bezüglich des Gefühls, dass das Leben mehr in petto haben muss als das, was beim Einzelnen ankommt, und auch bezüglich der Ausweglosigkeit und der daraus resultierenden Gewalt.

Zum Helden der Träume für die junge Nastja wird der deutsche Popsänger Thomas Anders: „Er ist glänzend, geheimnisvoll und unerreichbar wie eine Fata Morgana. Er kommt aus dem fernen Westen, aus einem anderen Leben, aus einer anderen Welt.“ Als ein Mensch aus Fleisch und Blut, der Soldat Dima, an die Stelle dieser platonischen Beziehung tritt, ist das Mädchen bereit, alles für ihre Liebe zu riskieren. Aber die Beziehung scheitert daran, dass sich aus den wenigen ekstatischen Momenten keine alltägliche Bindung entwickeln lässt. Nachdem sie mehrmals gemeinsam geflohen sind, was für den Armeeangehörigen Dima ein hohes Risiko bedeutet, verschwindet er aus ihrem Leben. Das gemeinsame Kind lässt Nastja in einer Abtreibungsklinik wegmachen: „Abtreibung ist bei uns eine Art Reifeprüfung“, heißt es lapidar an einer Stelle des Romans.

Mit Das kalte Licht der fernen Sterne hat Anna Galkina ein Debüt vorgelegt, das durch seine Sprache besticht, aber eher eine Sammlung pointierter Kurzgeschichten ist als ein Roman. Szenen poetischer Schönheit – etwa wenn die vier Jahreszeiten in der Siedlung beschrieben werden – wechseln sich ab mit solchen, in denen ein harter, manchmal auch übertrieben erscheinender Realismus dominiert. Ob die Massenvergewaltigung einer Jugendlichen vor Publikum so detailversessen beschrieben werden muss, wie Galkina das tut, sei dahingestellt. Dann wieder sind die Auschnitte aus einer Wirklichkeit, wie sie die Autorin zu großen Teilen selbst erlebt haben muss, auch wenn sie betont, dass nichts Autobiografisches an ihrer Hauptfigur ist, so voller Humor und Menschlichkeit, dass man sich wünschen würde, sie setzte in ihren nächsten Arbeiten genau hier an. Vielleicht bei jener Bibliotheksdirektorin Tamara Gerassimowna, die im letzten Viertel des Buches ohnehin eine zentrale Rolle spielt.

Titelbild

Anna Galkina: Das kalte Licht der fernen Sterne.
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt a. M. 2016.
224 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783627002244

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch