Das Große, Ganze, Einzigartige

Das Buch zum Mega-Filmprojekt „Human“ von Yann Arthus-Bertrand

Von Laslo ScholtzeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Laslo Scholtze

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Yann Arthus-Bertrand ist bereits Starfotograf, als 2009 sein erster Kinofilm „Home“ über unseren Heimatplaneten und dessen menschengemachte Bedrängnisse erscheint. Prägend für den Film ist die Luftbildfotografie, die Arthus-Bertrand berühmt gemacht hat und die Rezensenten mehrheitlich zu so schnappatmenden Superlativen wie „überwältigend“, „spektakulär“ oder „atemberaubend“ greifen lässt. Und ja, es ist tatsächlich, als stürzte man kopfüber in ein zum Leben erwachtes „GEO Special“ monumentalen Ausmaßes.

2015 hatte sein zweiter Film „Human“ auf dem Filmfestival in Venedig Premiere. Dessen Anspruch ist im Vergleich zu dem des Debüts keineswegs geringer. Im Gegenteil. Diesmal geht es um das Große, Ganze und Einzigartige des Menschseins. Dabei spielen die Panoramaaufnahmen aus dem Helikopter nur mehr eine nachgeordnete Rolle. Im Mittelpunkt stehen vielmehr die einzelnen Menschen, die das Filmteam über den gesamten Globus verteilt aufgespürt hat.

Für das Megaprojekt wurden 2.020 Personen in 60 verschiedenen Ländern dieser Erde interviewt, alle in der gleichen festen Einstellung vor dem gleichen neutralen schwarzen Hintergrund. Sie blicken dem Zuschauer direkt in die Augen und erzählen ihre Geschichten: Wendepunkte ihres Lebens, ihren größten Schmerz, ihr Glück, ihre Ratlosigkeit, die Essenz ihrer Erfahrung, manchmal auch nur kuriose Ansichten. Ein Franzose etwa berichtet von seiner Heirat, nachdem er bei einem Unfall Arme und Beine verloren hat, eine Senegalesin vom Leben mit einem polygamen Mann und einer Nebenfrau. Fabrikarbeiter aus verschiedenen Ländern erklären auf direkte Art und Weise, was die Ausbeutung mit ihnen und ihren Körpern anrichtet. Eine junge, dunkelhäutige Frau sieht freudig ihrer Ausbildung entgegen, sie verbüßt gerade den letzten Tag ihrer Gefängnisstrafe wegen Abtreibung. Ein gealterter Japaner blickt zurück auf seine große Liebe, die er erst nach sieben Jahren und einem gemeinsamen Selbstmordversuch heiraten durfte.

„In erster Linie ist Human ein politischer Film“, sagt Yann Arthus-Bertrand. Krieg, Sklaverei und Unterdrückung führten zu einer endlosen Spirale von Hass und Gewalt. Der Filmemacher, der sich selbst als Aktivist versteht, glaubt an die Wandlung des Einzelnen. Die Veränderung der Verhältnisse fange im Herzen eine jeden Menschen an. Man müsse sich stets vergegenwärtigen, dass uns weder vom Opfer noch vom Übeltäter etwas Grundsätzliches trenne, „wir sind genau wie sie“.

Wie auch immer es den Interviewern gelungen ist – die Atmosphäre, die zwischen den Porträtierten, die meist in ihrer Muttersprache sprechen, und dem Zuschauer entsteht, ist unverstellt, intim und von großer Direktheit. Schnell stellt man fest, dass das exotische beziehungsweise vertraute Äußere der Person keinen Rückschluss auf deren Erfahrungshintergrund oder die Haltung zum Leben zulässt. So wird man immer wieder aufs Neue mitgerissen und hat kaum eine andere Wahl, als sich ohne doppelten Boden für das Erzählte zu öffnen. Mittlerweile sind bereits mehrere 90-minütige Filme aus den tausenden Stunden Filmmaterial entstanden, die das 20-köpfige Team um Yann Arthus-Bertrand über zwei Jahre hinweg aufgetürmt hat.

Das im Knesebeck Verlag erschienene Buch zum Film bietet eine Auswahl dieser Portraits, geordnet nach Kapiteln wie „Glück“, „Armut“, „Frauen“, „Gerechtigkeit“ oder „Krieg“. Einige Geschichten sind herzzerreißend, andere verblüffend, Vorurteile infrage stellend, viele sind inspirierend. Neben den großformatigen Fotos sind es exklusive Interviews, Reportagen sowie etliche aufbereitete Kontextinformationen und Grafiken, mit denen das Buch über den Film hinausgeht. Die sozial engagierte, konstruktive Grundhaltung ist durchweg präsent, gleichzeitig handelt es sich insgesamt um eine erfrischend heterogene Sammlung von Themen: eine autobiografische Reportage über die Entwicklung eines autistischen Kindes, Begegnungen mit chinesischen Fabrikarbeiterinnen oder mit der Frau, die dem Mörder ihrer Tochter und Enkelin vergibt.

Genauso wie der Film lässt sich auch das Buch „Human“ im Grunde am besten häppchenweise, im Modus des Rein- und Rauszappens erschließen: eintauchen, Geschichten entdecken, sich überraschen und beeindrucken lassen, wieder aussteigen und das Erlebte nachklingen lassen. Angesichts der Tragweite der Themen und der Intimität der Berichte mag das fast frivol erscheinen. Dennoch wird es dem prinzipiell grenzenlosen Anspruch des Werks am ehesten gerecht. Wesenszüge des Menschseins mitsamt den gegebenen sozialen, kulturellen, wirtschaftlichen und ökologischen Bedingungen zu erfassen, ist schließlich per se ein unmögliches Projekt. Oder zumindest eines, das mit seiner Unmöglichkeit lustvoll ringt. Der Leser sollte daher seine eigenen Schwerpunkte wählen und die persönliche Aufnahmekapazität für die unterschiedlichen Schicksale und Perspektiven ausloten. Belohnt wird er möglicherweise mit dem Gefühl, einer ganz eigenen Schönheit in der Vielfalt dessen zu begegnen, was es heißen kann, ein Mensch zu sein.

Titelbild

Yann Arthus-Bertrand: Human.
Knesebeck Verlag, München 2015.
224 Seiten, 24,95 EUR.
ISBN-13: 9783868739053

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