Wenn Unschuldige zu Opfern werden

In seinem Roman „Die Toten schauen zu“ aus dem Jahr 1943 lässt Gerald Kersh den faschistischen Schrecken über ein kleines tschechisches Dorf hereinbrechen

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gerald Kersh, 1911 in London geboren und mittellos 1968 in New York verstorben, hat in seinem Leben über 1.000 Artikel, mehr als 400 Kurzgeschichten und 19 Romane geschrieben. Während des Zweiten Weltkriegs wurde er zum viel gelesenen Bestsellerautor. Durch Steuerschulden, Krankheiten und persönliche Probleme in seinen späteren Jahren geriet die so verheißungsvoll gestartete Karriere jedoch ins Stocken, sodass nach seinem Tod kaum ein Verlag mehr auf seine Bücher zurückgriff. Erst nach der Jahrtausendwende startete in England eine kleine Kersh-Renaissance. In Deutschland hat der Autor mit inzwischen drei übertragenen Romanen so etwas wie eine verlegerische Heimat beim von Frank Nowatzki geleiteten Berliner PULP MASTER Verlag gefunden. Nach zwei Texten, die eher in den Noir-Bereich gehören, ist Die Toten schauen zu nun ein Kriegsroman, dessen Plot einen ganz realen Hintergrund besitzt.

Am 27. Mai 1942 wurde bei einem Attentat in Prag Reinhard Heydrich, als Chef des Reichssicherheitshauptamtes maßgeblicher Organisator des Holocaust und seit September 1941 stellvertretender Reichsprotektor für Böhmen und Mähren, so schwer verletzt, dass er acht Tage später verstarb. Bereits am 9. Juni, dem Tag von Heydrichs Begräbnis in Berlin, schlug die NS-Führung brutal zurück. Mit Lidice wurde ein Dorf in der Nähe Prags vollkommen zerstört, seine 177 männlichen Bewohner erschossen, die Frauen ins Konzentrationslager Ravensbrück verbracht, die Kinder des Ortes – bis auf neun, die man als „germanisierbar“ einstufte – ermordet.    

In Kershs sich an dieser Realität orientierenden Fiktion träg Heydrich den Namen von Bertsch. Das Dorf, das dem Rache-Massaker der Nationalsozialisten zum Opfer fällt, heißt in Die Toten schauen zu Dudicka. Wie im Falle von Lidice, wo bis heute umstritten ist, warum gerade dieser Ort von den Verantwortlichen ausgewählt wurde, führen auch nach Dudicka nur vage Spuren. Ein Motorrad, das jenem ähnelt, von dem aus auf von Bertsch geschossen wurde, wird unweit des Dorfes entdeckt, was bereits genügt, um eine brutale Tötungsmaschinerie in Bewegung zu setzen.

In 21 kurzen Kapiteln konfrontiert der Roman seine Leser mit dem Aufeinanderprall zweier Welten. Hier eine kleine Dorfgemeinschaft, die sich nichts zuschulden kommen ließ. Da eine fabrikmäßig Mord und Zerstörung betreibende, äußerlich kultivierte, aber moralisch korrumpierte und mitleidlose Soldateska. Auf der Seite der Einwohner von Dudicka finden sich lebensbejahende Individuen – der Dorfschullehrer, der Pfarrer, eine Familie von Glasbläsern, ein Metzger, ein Gastwirt, der Betreiber des Tabakwarenladens, ein treu sorgender Bürgermeister, sie alle mit ihren Frauen und Kindern –, insgesamt 405 Personen, denen 90 Häuser und eine Kirche, ein Fluss, ein Steinbruch, Obsthaine und zahllose Walnussbäume Heimat bedeuten. Auf der Seite der in dieses Idyll – das natürlich auch seine dunklen Ecken hat – eindringenden Henker hingegen stramm die Hacken zusammenschlagende Befehlsempfänger, zynisch den Herrenmenschen-Typus herauskehrende Offiziere, Soldaten, die, wenn ihnen Mitleid ankommt, beschämt zu Boden schauen, und einer, der die ganze Strafaktion an über 400 Unschuldigen leitet: Heinz Horner.

Bereits die Initialen verraten es: In Horner hat Kersh Heinrich Himmler porträtiert. Vom „Schreibtischtäter“, der Himmler eigentlich, wie das informative Nachwort der Übersetzerin Angelika Müller betont, so nie war, macht er ihn zum Verantwortlichen vor Ort, Auge in Auge mit dem Schrecken, den er selbst erdacht hat und nun Punkt für Punkt in die Tat umsetzen lässt:

Seine elegante, neue Uniform hing an ihm wie an einer Schneiderpuppe. Unter einer geradezu ungebührlich keck aufgesetzten Uniformmütze funkelten Brillengläser, rund wie die Augen einer Eule. Der Schirm der Mütze warf einen Schatten auf die unauffällige Nase, den ebenso unauffälligen Schnurrbart und auf einen Mund, der aussah wie von einem Messer geschlitzt.

Vor diesem Sendboten des Todes und seinen willfährigen Henkersknechten – einer, der sich sämtlichen Metalls im Dorf annimmt, es penibel zusammentragen und sortieren lässt, einer, dem das Fällen der Walnussbäume obliegt, und weiteren willfährigen Untergebenen, die selektieren, die Frauen in der Kirche zusammentreiben, mehr als 100 Kinder auf einem Lastwagen abtransportieren und die Männer ihr eigenes Grab schaufeln lassen, ehe sie erschossen werden – hat Dudicka keine Chance. Nach einem Beschuss mit Kanonen und der darauffolgenden Bombardierung stehen die Täter auf einer kleinen Anhöhe und schauen hinab in das Inferno aus Trümmern, Rauch und Feuer. „Das ist etwas, worüber die Tschechen in den nächsten hundert Jahren nur im Flüsterton sprechen werden“, lässt einer der Mörder verlauten. Er hat Recht und er irrt sich zugleich. Denn dass Lidice auch heute nicht vergessen ist, liegt längst nicht mehr daran, dass die Vernichtung dieses Orts als eine Warnung begriffen wird. Im Gegenteil: Das Erinnern an den 9. Juni 1942 und den kleinen Ort nahe Prag funktioniert seit Langem im Sinne einer Mahnung an die Nachgeborenen, wachsam zu sein, damit sich nicht wiederholt, was uns Kershs Buch so eindrücklich vor Augen führt.       

Die Toten schauen zu ist ein bewegender Roman voller berührender Szenen. Man muss dem Verlag und den beiden Übersetzern dankbar sein, dieses Buch auch für die deutschen Leser zugänglich gemacht zu haben.

Titelbild

Gerald Kersh: Die Toten schauen zu.
Übersetzt aus dem Englischen von Ango Laina und Angelika Müller.
Pulp Master Verlag, Berlin 2015.
230 Seiten, 12,80 EUR.
ISBN-13: 9783927734746

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