Spiegelbilder zwischen Besorgnis und Sympathie

In einem so engagiert wie einfühlsam geführten Dialog loten die Historiker Irina Scherbakowa und Karl Schlögel aktuelle wie historische Untiefen im Verhältnis deutsch-russischer Nachbarschaft aus

Von Volker StrebelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Strebel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es war ein Ereignis von großer Symbolkraft, als während des Kalten Krieges der Schriftsteller Heinrich Böll (1917–1985) und der russische Germanist Lew Kopelew (1912–1997) im deutschen Fernsehen ein aufregendes und später auch publiziertes Gespräch unter dem Titel „Warum haben wir aufeinander geschossen?“ führten. Das bemerkenswerte an dieser Diskussion war unter anderem, dass sich zwei frühere Teilnehmer des verheerenden Krieges über alle ideologischen Fronten hinweg im offenen Austausch miteinander verständigen konnten.

Das vorliegende Gespräch „Der Russland-Reflex. Einsichten in eine Beziehungskrise“ zwischen Irina Scherbakowa und Karl Schlögel knüpft ein Vierteljahrhundert nach dem Zerfall der Sowjetunion an die gute Tradition des gemeinsamen freundschaftlichen Nachdenkens über das Verhältnis zwischen Deutschland und Russland an.

Scherbakowa wie auch Schlögel gehören der Generation der Nachkriegskinder an, dennoch sind ihre Biografien auch durch die Geschehnisse des Zweiten Weltkriegs geprägt. Beider Väter hatten an der Ostfront gekämpft: Scherbakowas Vater wurde dabei schwer verwundet und blieb zeitlebens Invalide. Ihre Angehörigen waren unmittelbar vom Krieg betroffen, die Urgroßmutter aus Dnepropetrovsk war zusammen mit anderen Juden von Deutschen ermordet worden.

Die deutsche Sprache und Kultur war Irina Scherbakowa andererseits insofern vertraut, da ihr Großvater als überzeugter Kommunist Mitarbeiter der Komintern war und somit auch enge Kontakte zu deutschen Berufsrevolutionären hatte. Trotz der belastenden historischen Hypothek interessierte sich Irina Scherbakowa bereits in jungen Jahren für die deutsche Kultur und Literatur. Und spiegelbildlich traf diese Neugier auf den unbekannten Nachbarn auch auf Karl Schlögel zu.

Oft genug waren die Deutsch-Russischen Beziehungen von Gewalt und Misstrauen gekennzeichnet. Seit Mitte der 1980er-Jahre hatte sich dies unter der Führung von Michail Gorbatschow grundlegend geändert. Sein Reformvorhaben in der Sowjetunion sollte sehr bald das Verhältnis zu den bisherigen Feinden und allen voran Deutschlands in völlig neue Bahnen lenken. Die ebenso beeindruckende wie vielschichtige Kultur und Literatur Russlands, aber auch deren politische Repräsentanten gelangten international zu einer bislang nie dagewesenen Popularität.

In ihrem anregenden Gespräch versuchen die beiden Historiker unter anderem der Frage nachzugehen, warum an die Stelle der von „Glasnost“ (Offenheit) und „Perestroika“ (Umbau) ausgelösten Euphorie einer nachbarschaftlichen Neugestaltung in Russland als auch in Deutschland Ernüchterung getreten ist. Gemeinsam suchen sie zu ergründen, wie es dazu kommen konnte, dass im heutigen Russland wieder ein aggressiver Diskurs in Politik und Sprache die Meinungsführerschaft übernommen hat.

Irina Scherbakowa berichtet von der Menschenrechtsorganisation MEMORIAL, einer Initiative zur Aufarbeitung sowjetischen Unrechts, die in den späten 1980er-Jahren entstanden ist und auch heute noch, wenn auch unter erschwerten Bedingungen, wertvolle Arbeit für das Land leistet.

Beide Gesprächsteilnehmer umkreisen im Nachspüren ihrer biografischen Hintergründe zugleich die aktuelle Situation in Russland und kommen zu unmissverständlichen Schlussfolgerungen. Sie skizzieren die erfolgreichen Unternehmungen der Meinungsmacher russischer Staatsmedien, das kollektive Gefühl einer erlittenen Schmach zu aktivieren. Russland, das über Jahrhunderte hinweg immer wieder von äußeren Feinden bedrängt worden sei, würde sich jetzt endgültig von den Knien erheben und endlich wieder zu neuer Stärke finden. Kein Wort wird darüber verloren, dass es der sowjetische Bolschewismus war, der Russland gedemütigt und devastiert hat. Weder die allseits gescholtenen Amerikaner noch „der Westen“ haben jahrhundertealte russische Klöster zerstört und geschlossen. Die Stärke der Sowjetunion, aus der heutzutage wieder selbsternannte Patrioten ihr Selbstwertgefühl ableiten, hatte dem eigenen Land einen mörderischen Preis abverlangt.

Der Versuch der heutigen Führung, sich ideologisch von den konservativ-christlichen Werten der Orthodoxie absichern zu lassen, wird als Ablenkungsmanöver eingeordnet. Alten Seilschaften des früheren Geheimdienstes KGB geht es allein um die Schlüsselpositionen der Macht – gelernt ist gelernt! Ob Marxismus-Leninismus oder das zusammengeschusterte Modell einer wie auch immer gearteten „Russischen Idee“, die Feindbilder sind dieselben geblieben: die USA, Demokratie und demokratische Freiheiten. Deren Vorzüge werden freilich in aller Selbstverständlichkeit genutzt, wenn es um komplizierte medizinische Behandlungen oder sichere Immobilienanlagen geht.

Die „Vergangenheit nicht zu kennen, kann die Zukunft kosten“ – diese Mahnung hatte der Dichter Reiner Kunze vor dem Hintergrund zweier totalitärer Diktaturen auf deutschem Boden formuliert. Für das heutige Russland ist diese Formel von geradezu bestürzender Aktualität!

Titelbild

Irina Scherbakowa / Karl Schlögel (Hg.): Der Russland-Reflex. Einsichten in eine Beziehungskrise.
Körber-Stiftung, Hamburg 2015.
144 Seiten, 17,00 EUR.
ISBN-13: 9783896841698

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