Der Kompass weist nach Osten

„Boussole“ von Mathias Énard, Preisträger des prix Goncourt 2015

Von Stephanie BungRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stephanie Bung

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Herbst 2015 wurde Boussole, der sechste Roman von Mathias Énard, mit dem wohl wichtigsten französischen Literaturpreis, dem prix Goncourt, ausgezeichnet. Im Herbst 2016 will der Hanser Verlag Berlin die deutsche Übersetzung unter dem Titel Kompass herausgeben – ein willkommener Anlass, einem deutschsprachigen Publikum dieses außergewöhnliche Buch vorzustellen.

Kürzlich in einer französischen Buchhandlung: Eine sichtlich empörte Kundin spricht mit der Verkäuferin, die zustimmend nickt. Satzfetzen wie „Was hat sich die Jury nur dabei gedacht?“ oder „Den Goncourt für Boussole? Das ist doch kein Roman!“ lassen auch andere Kunden aufhorchen. Man ist sich darüber einig, dass Énard, hätte er einen Roman und keine Enzyklopädie schreiben wollen, nicht einfach alles hätte sagen dürfen, was er weiß. In einem Punkt hatte diese aufgebrachte Leserschaft sicherlich nicht ganz Unrecht: Der prix Goncourt darf als eine Empfehlung für ein breites Publikum betrachtet werden, als eine Auszeichnung, die für gewöhnlich vor allem fiktionalen Werken zuteilwird, die sich – wie man gemeinhin sagt – „gut lesen lassen“. Boussole hingegen ist ein Text für geduldige, durchaus wissensdurstige Leserinnen und Leser mit Freude an langen, kraftvollen, aber eben auch bildungsintensiven Sätzen, von denen man sich beispielsweise durch ein mehrere Seiten starkes Portrait des Orientalisten Hammer-Purgstall hindurch in eine Abhandlung über die Einflüsse der Türkenkriege auf die europäische Musik führen lässt, um sich im Anschluss daran einen nicht weniger informierten Einblick in das bewegte Leben der den Nahen und Fernen Osten bereisenden Schriftstellerin Annemarie Schwarzenbach vermitteln zu lassen. Kein Zweifel, das Wissen des Autors, der die persische und arabische Sprache und Kultur studiert hat, über seine Materie ist umfassend, und er lässt seine Leserinnen und Leser großzügig daran teilhaben. Aber hat er darum schon sein Ziel verfehlt, einen Roman zu schreiben? Erwarten wir nicht von einem Roman, dass uns eine Geschichte erzählt wird, die uns etwas angeht und in deren Handlung wir nach und nach gleichsam hineingezogen werden?

Boussole erzählt von Franz und Sarah und von einer Liebe, die über viele Jahre hinweg schwelt, bevor sie – angesichts von Krankheit und Tod – endgültig zu erlöschen droht. Der Ich-Erzähler Franz Ritter, ein Wiener Musikwissenschaftler mittleren Alters, verliebt sich auf Anhieb in die Französin Sarah, eine ungefähr gleichaltrige Literatur- und Kulturwissenschaftlerin mit einem ausgeprägten Forschungsinteresse an Kulturkontakten. Sie sind kein Paar, aber die erotische Spannung zwischen ihnen wird bei jeder Begegnung von neuem spürbar. Das erfahren wir jedoch erst im Laufe der Zeit, denn Franz nimmt uns zunächst mit auf eine imaginäre Reise durch eine schlaflose, nicht nur dem Protagonisten endlos erscheinende Nacht. Auch als Leserin und Leser ist man anfangs einigermaßen erschöpft, wenn man wieder einmal die durchschnittlich vierzig informationsgesättigten Seiten eines Kapitels bewältigt hat und feststellen muss, dass laut der Überschrift des Folgekapitels – die Rahmenhandlung des Romans ist nach Uhrzeiten strukturiert – gerade mal eine Stunde dieser Nacht vergangen ist. Insbesondere zu Beginn des Buches benötigt man tatsächlich Geduld und Zeit, in den Rhythmus der Erzählung einzusteigen, ohne sich von den vielen Rückblicken und den bereits erwähnten Einlassungen auf die Geschichte westöstlicher Beziehungen entmutigen zu lassen. Allmählich wird immerhin klar, dass die Erinnerungen des Schlaflosen um eben jene Frau, nämlich Sarah, kreisen, die sich mit Leib und Seele dem Thema verschrieben hat, das sich mit dem Erkenntnisinteresse des Buches deckt. Es geht sowohl ihr als auch Énard selbst um die unauflösliche Verschlungenheit und die gegenseitige Bereicherung der sich immer wieder neu konstellierenden Vorstellungen von Orient und Okzident.

Franz und Sarah lernen sich als junge Nachwuchswissenschaftler auf einem Orientalisten-Kongress im Schloss des bereits erwähnten Hammer-Purgstall kennen. Dieses Ereignis liegt zum Zeitpunkt der Erzählung ungefähr zwanzig Jahre zurück. Die Erinnerung an die folgenden Begegnungen führen alle Beteiligten – einschließlich der Leserinnen und Leser – im Laufe der Nacht von Österreich über Istanbul und Syrien bis in den Iran und darüber hinaus bis nach Indien und Indochina. An all diesen Orten haben sich bereits in der Vergangenheit immer wieder faszinierende Begegnungen mit reisenden bzw. erobernden Europäern ereignet, und die fiktionalen Figuren des Romans tauschen untereinander ihre Kenntnisse über diese historischen Begebenheiten aus. Bleibt die Frage für zukünftige Leserinnen und Leser des Romans: Lassen sich denn diese kenntnisreichen Binnenerzählungen sowie weitere, durch die fiebrigen Selbstgespräche des schlaflosen Franz vermittelten historischen Exkurse wirklich mit der Rahmenhandlung in Einklang bringen? Oder wird diese Handlung zum Vorwand für die Ausbreitung von Wissen, das zweifelsfrei nützlich, aber vielleicht unter erzähltechnischen Gesichtspunkten entbehrlich ist? So unwahrscheinlich es auf den ersten Blick erscheinen mag: Jede Station dieser topographisch gestützten Erinnerung und (fast) jeder historische Exkurs tragen dazu bei, dass die Figuren und ihre spannungsvolle Beziehung besser greifbar werden und zusehends Gestalt annehmen.

Die Protagonisten des Romans leben für die Wissenschaft. Sie ziehen aus der Betrachtung und gedanklichen Durchdringung ihrer Gegenstände jene Kraft, die es ihnen erlaubt, sich immer wieder von neuem und mit Neugierde ihrer Umgebung und einander zuzuwenden. So wird beispielsweise ein insgesamt eher misslungenes Treffen in Paris durch einen Spaziergang über den Friedhof von Montparnasse dadurch aufgehellt, dass man sich anhand des geteilten Wissens über die berühmten Toten – und deren humorvoll inszenierten, imaginären Gespräche – einer Wirklichkeit versichert, die über das eigene, isolierte Dasein hinausweist und zugleich eine Verbundenheit erahnen lässt, die das Alleinsein erträglich macht. Man mag das befremdlich und zuweilen nicht einmal besonders sympathisch finden, aber die Motivation der Figuren sowie die innere Logik ihrer Beziehung erhalten auf diese Art Kontur. Erstaunlicherweise wird uns also die Geschichte der Kulturkontakte, die sich auch als das Ineinandergreifen verschiedener ‚Orientalismen‘ lesen lässt, nicht auf Kosten der Romanhandlung erzählt. Vielmehr findet die Wissens- und Repräsentationsgeschichte, die nicht erst in jüngster Zeit uns alle etwas angeht, Eingang in eine Liebes- und Lebensgeschichte, deren Handlungsverlauf uns zunächst unmerklich, dann aber immer stärker gefangen nimmt. Dies ist nicht wenig und alles andere als selbstverständlich, denn wie oft scheitert nicht der Versuch, eine tragfähige Spannung auf der Grundlage einer Figur aufzubauen, von der Leser wie Leserinnen beeindruckt sein sollen, nur weil eine andere Figur immer wieder behauptet, sie sei beeindruckend? Tatsächlich stellt der Topos der geheimnisvollen, erotischen und unnahbaren Frau – hier verkörpert durch Sarah, der Franz sowohl in Gedanken als auch in der zurückliegenden Wirklichkeit immer weiter nach Osten folgt – ein gewisses Risiko für einen Roman dar, in dem es um Phantasien und Realitäten des sogenannten Orients geht. Dieses Risiko – die dem Klischee verhaftet bleibende Darstellung – ist mindestens ebenso hoch wie die Gefahr, die Handlung eines Romans für die reine Informationsvermittlung zu missbrauchen. Boussole entgeht beiden Gefahren und erzählt – zwischen Skylla und Charybdis geschickt navigierend und die Spannung buchstäblich bis zum letzten Wort haltend – die Geschichte der ewigen Anziehung durch das Fremde im Eigenen und durch das Eigene im Fremden.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Mathias Énard: Boussole.
Actes Sud, Arles 2015.
377 Seiten, 23,95 EUR.
ISBN-13: 9782330053123

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