Etwas in ihnen erwacht zum Leben

In „Das Reich Gottes“ versucht Emmanuel Carrère die Anfänge des Christentums und seinen eigenen (Un)Glauben zu verstehen

Von Laslo ScholtzeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Laslo Scholtze

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Das Reich Gottes“ ist ein ungewöhnliches Buch. Bereits die Zuordnung zu einer literarischen Gattung fällt schwer. Ausgehend von einem autobiografischen Prolog rekonstruiert der französische Schriftsteller Emmanuel Carrère Anfänge und Ausbreitung des Christentums anhand der Lebensläufe von Paulus, dem Kirchengründer, und Lukas, dem Evangelisten und Verfasser der Apostelgeschichte.

Nun handelt es sich bei „Das Reich Gottes“ weder um einen historischen Roman noch um eine theologische Abhandlung. Vielmehr bewegt sich Carrère zwischen den Gattungen und verbindet fiktionale, historische und essayistische Stränge miteinander. Während einerseits die Geschichten von Paulus und Lukas entfaltet werden und sich Carrère dabei, bis hin zu den Bibelzitaten, einige literarische Freiheiten nimmt, ist der Leser gleichzeitig stets darüber informiert, warum der Erzähler diese oder jene Darstellung der Ereignisse wählt, welche alternativen Sichtweisen es geben könnte und wie die Zuverlässigkeit der Quellen einzuschätzen ist.

Wer bei Schlagworten wie „historisch“ oder „Quellen“ an trockenen Stoff denkt und um seine Leselust fürchtet, der sei beruhigt: Carrère führt die leichte Feder des Romanciers und Drehbuchautors, der sich in die Persönlichkeit seiner Protagonisten mit Leidenschaft hineinversetzt und die psychologischen Nuancen im Ringen mit ihrem Umfeld, ihren Anhängern und Antipoden auslotet. Während die erzählerischen Teile klar überwiegen, webt er mit Geschick und Humor Vergleiche zwischen dem Entstehen der frühchristlichen Gemeinden und spirituellen Trends der Gegenwart ein. Und füllt Lücken, zu denen kein historisches Material vorliegt, gerne nach dem Motto „Mir gefällt es, mir vorzustellen, es habe sich folgendermaßen abgespielt …“

Insgesamt gelingt es ihm, von einem agnostischen Standpunkt aus, gewissermaßen ein Maximum an Verständnis für die große Frage herzustellen, wie die radikale, den Verstand der Zeitgenossen provozierende, herrschende Werte auf den Kopf stellende christliche Lehre sich im römischen Reich verbreiten und, scheinbar gegen jede Wahrscheinlichkeit, ihren Siegeszug zur Weltreligion antreten konnte. Die Übersetzerin Claudia Hamm, die für ihre Arbeit unlängst mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet wurde, schreibt im Nachwort, „Das Reich Gottes“ sei „ein Buch über ein ganz persönliches Verhältnis zur Bibel, ein Buch über ein Ich, das sich der Bibel und ihren Inhalten annähert.“

Es fällt also nicht schwer, dieses große Werk zu loben, was in den Feuilletons auch ausgiebig geschehen ist. In Frankreich ist Carrères „Das Reich Gottes“ (Le Royaume) längst zum Bestseller avanciert, zwischenzeitlich befand es sich sogar auf Platz 1 der Verkaufscharts. Der Roman bietet im Grunde eine unkonventionelle und dennoch tiefgehende Einführung in die Entstehung des Christentums wie auch in das Mysterium seiner Botschaft vom Erscheinen, Wirken, Sterben und Auferstehen des Gottessohns. Gleichwohl ist Carrère fraglos auch für Leser mit historischer und theologischer Vorbildung ein anspruchsvoller Sparringspartner, der an Gewissheiten jeglicher ideologischer Couleur zu rütteln vermag und für viele Passagen der Evangelien und der Apostelgeschichte mit herausfordernden Deutungen aufwartet.

Dennoch: Geht man von Claudia Hamms Formulierung „ein Ich, das sich der Bibel annähert“ aus, zerfällt das Buch in zwei Teile: Im autobiografischen Prolog legt ein hochgradig involvierter, leidender Erzähler Bekenntnis über Lebenskrise, Bekehrung, Erhebung durch und schließlich Abkehr vom Glauben ab. Es sind Selbsterkundungen einer Seele, die zwischen Sehnsucht, höherer Einsicht, erhoffter Läuterung und einer scheinbar unvermeidlichen Eitel- und Verletzlichkeit schwankt. Dies alles wird völlig unprätentiös dargeboten, unterschlägt auch das in der Rückschau Peinliche nicht und macht doch unmissverständlich klar: Hier steht etwas Großes auf dem Spiel und noch ist der Ausgang offen. Wenn Carrère am Ende des Berichts dann trotz aller Bemühungen, trotz aller Exerzitien mit einer letzten Bitte vom Glauben abfällt, traut man sich für einen Moment nicht mehr zu atmen: „Herr, ich gebe dich auf. Gib du mich nicht auf“.

Dieses involvierte, autobiografische Ich kommt im Epilog wieder zum Vorschein, wenn Carrère von einer Begegnung im Kloster berichtet, in der sich Gläubige gegenseitig die Füße waschen, um ihrem Dienst am Nächsten nachzukommen. Während dieses Aufenthalts wird er Zeuge nicht nur der aufrichtigen Güte, sondern auch der Freude, die der Glaube in den Anwesenden entfacht. Es scheint dies die Essenz dessen zu sein, was Carrère an den Gläubigen bewundert und was ihn nach wie vor stark anzieht, ein Geheimnis, eine verheißungsvolle Haltung zum Leben, zu der er immerhin ansatzweise einen Zugang findet: Er habe eine Ahnung davon bekommen, „was das Reich Gottes ist“, schreibt er.

Carrère schließt an dieses Erlebnis einen kurzen Exkurs zu Jean Vanier und der von ihm begründeten Arche-Gemeinschaft an, in der behinderte mit nicht-behinderten Menschen in Wohngemeinschaften zusammenleben: „Diejenigen, die unheilbar krank sind, werden zwar nicht geheilt, aber jemand spricht mit ihnen, berührt ihren Körper und sagt ihnen, dass sie wichtig sind,und das verstehen selbst die Schwerstbehinderten und etwas in ihnen erwacht zum Leben.“ Carrère scheint dies noch viel mehr zu bedeuten als seine geistreichen Überlegungen zu Lukas und Paulus. Seine Prosa kommt bei diesen, ihn offensichtlich im Innersten betreffenden Fragen ganz ohne schmückendes Beiwerk aus, ist aufs Wesentliche reduziert und von großer Unmittelbarkeit. Im Vergleich dazu wirkt der Hauptteil des Buches – also die historisch nacherzählende, reflektierende Auseinandersetzung mit den Anfängen des Christentums – doch vegleichsweise zahm.

Auch ihm muss man applaudieren, alles andere wäre eine Verkennung der Glanzleistung hinsichtlich Recherche, der Fülle des souverän verarbeiteten Materials sowie der Tiefe der Reflexion. Daher stellen beide Teile des Buches etwas Außergewöhnliches dar. Ein literarisches Erlebnis ist aber nur der sehr viel schmalere autobiografische Rahmen.

Titelbild

Emmanuel Carrère: Das Reich Gottes.
Übersetzt aus dem Französischen von Claudia Hamm.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2016.
524 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783957572264

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