Ist das das ganze Deutschland?

Über den Reportagenband „Acht deutsche Sommer“ von Wolfgang Büscher, Christine Kensche und Uwe Schmitt

Von Martin SchönemannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Schönemann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das im Frühjahr erschienene Buch „Acht deutsche Sommer“ basiert auf einer Reportagenserie der Zeitung „Die Welt“ und umfasst biografische Texte der „Welt“-Autoren Wolfgang Büscher, Christine Kensche und Uwe Schmitt, die exemplarisch „Deutschland erzählen“ wollen, wie der Hauptautor und Initiator Wolfgang Büscher in seinem Vorwort betont. Alle Texte sind gleich aufgebaut: Es wird, ausgehend von einem zentralen Sommerereignis, jeweils ein individuelles Schicksal geschildert – wobei zwischen 1945 und 2015 jeder zehnte Sommer vertreten ist. Schon dieser Aufbau markiert den Anspruch des Buches, das Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg als Ganzes zu umfassen; den „Versuch, etwas, das zergeht und zerflattert, zusammenzuhalten, vielleicht auch zu umfassen“, wie es Büscher mit Verweis auf einen ähnlich gearteten Versuch des Regisseurs Werner Herzog formuliert.

Auch Büscher selbst hat in der Vergangenheit bereits einen solchen Versuch unternommen: 2002 schrieb er „Drei Stunden Null“, einen Verbund von drei autobiografischen Essays, mit denen der Autor auf bewusst subjektive Weise das Nachkriegswestdeutschland zu fassen versuchte: Im ersten Text schilderte er ausgehend von der Kriegsheimkehr seines Vaters den Untergang von dessen Heimatstadt Breslau; in einem zweiten zeigte er anhand der eigenen Begegnung mit dem Holocaust-Gedenken und 68er-Studenten in Westberlin, wie stark die Gespenster der Vergangenheit dieses Land prägten. Im dritten Text schildert er (ganz ähnlich wie Botho Strauß in seinem Stück „Schlusschor“) die Begegnung eines Ostdeutschen mit der Westberliner Partyszene, die den Spuk um die nach dem Krieg getrennten Staaten am 9. November 1989 beendete. Man mag die subjektiven und konservativen Einschätzungen dieser Texte im Detail vielleicht nicht teilen, dennoch beeindruckt das Gespür, mit dem Büscher die Lebenslügen der BRD aufspürt.

„Acht deutsche Sommer“ ist nun offenbar eine Ausweitung dieses älteren Projekts: Es übernimmt die Grundausrichtung von „Drei Stunden Null“ und beginnt ganz ähnlich – wiederum mit der Kriegsheimkehr von Büschers Vater –, doch es weitet zusätzlich den Blick über das Individuelle hinaus. Neben Büschers Vater geraten sieben andere, gänzlich anders geartete Biografien in den Blick. In stilistischer Hinsicht setzen die Mitautoren Kensche und Schmitt andere Akzente.

Diese Ausweitung des Blicks bedeutet leider auch eine Verwässerung der Grundidee. Das zeigt sich schon im ersten Essay. Der Tonfall ist entspannter als in „Drei Stunden Null“, aber auch belangloser, ja geradezu gleichmacherisch: „Solche wie er waren viele unterwegs – aus Armeen entlassen, aus Lagern befreit, aus besetzten Gebieten verjagt, auf der Flucht vor alten Rechnungen oder neuen Todesgefahren.“ Sicherlich sahen sich in diesem Sommer der flüchtige Nazi-Kriegsverbrecher, der vertriebene Ostdeutsche und der entlassene KZ-Häftling mitunter ähnlich – dennoch ziemt es uns Nachgeborenen, hier zu unterscheiden. Die Verallgemeinerung glättet das Bild allzu sehr und verwischt die Grenze zwischen Tätern und Opfern.

Diese Nivellierung zieht sich bedauerlicherweise durch das ganze Buch. Die meisten Texte feiern die Stillen, die Angepassten, woran ja grundsätzlich nichts Verkehrtes ist. Denn die jeweils ausgesuchten Personen sind ohne Zweifel wert, hervorgehoben zu werden. Wir lernen Menschen kennen, die im Verborgenen wirken, die nicht auffallen und doch Wesentliches tun: einen Studenten, der Zeugen im Auschwitz-Prozess betreut; einen ostdeutschen Katholiken, dem es gelingt, auf anständige Weise durch die DDR zu kommen; einen Soldaten, der in Afghanistan seinen Kopf für sein Land hinhält und andere mehr.

Das Problem dabei ist, dass die jeweils Portraitierten gegen andere ausgespielt werden, die genauso gut für Deutschland stehen könnten. So endet der Text über den Helfer im Auschwitz-Prozess: „Das war viel. Und es war 1965 – drei Jahre vor 68. Auch eine Wahrheit.“ Damit erweckt der Autor den Eindruck, als wäre die Rebellion von 1968 im Grunde epigonal gewesen. Er verdeckt damit die Tatsache, dass der Auschwitz-Prozess gegen die Mehrheitsmeinung in Deutschland durchgesetzt wurde und dass die 68er genau diesen umstrittenen Beginn der Aufarbeitung fortführten und popularisierten, wie es auch dringend nötig war.

Genauso steht der ostdeutsche Widerständige ausdrücklich gegen die Entspannungspolitik Westdeutschlands („Nicht immer waren die Menschen im inneren Exil glücklich über die routinierte Eilfertigkeit dieser Geschäfte.“). Die Frage, ob ihm ohne diese Entspannungspolitik nicht Schlimmeres passiert wäre, wird gar nicht gestellt. Und natürlich steht das Portrait des aufrechten Soldaten gegen die Mehrheit der Deutschen, die seinen Einsatz in Afghanistan ablehnte.

Ohne diesen polemischen, missmutigen Unterton kommen nur die beiden Sommergeschichten aus, die Christine Kensche über Frauen geschrieben hat: über eine Fußballerin und über eine DJane. Hier werden aktive, kämpferische Menschen vorgestellt, anders als in den Texten von Büscher und Schmitt wird Freiheit nicht als Ideal annonciert, sondern tatsächlich gelebt, werden Siege fröhlich gefeiert und über Niederlagen nicht genörgelt, sondern als Teil des Lebens hingenommen. Über die Fußballerin, die am Ende ihrer Sportkarriere viel für den Frauenfußball und wenig für sich erreicht hat, heißt es ohne Groll: „In der zweiten Lebenshälfte holt sie das nach, wofür früher nie Zeit war: Reisen, Freunde treffen, die große Liebe.“ Und über die DJane: „Die Menge vor dem Mischpult bleibt immer gleich alt, nur Ellen wird älter. Aber wenn sie auflegt, sieht sie aus wie eine junge Frau. Springt hinter den Plattentellern hin und her. Breitet die Arme aus, als würde sie fliegen.“

Diese Lebenslust wünschte man auch den Texten von Büscher und Schmitt – ihre Protagonisten hätten es verdient. Denn jede dieser acht Sommergeschichten erzählt ein spannendes, erinnernswertes Schicksal und sichert der Nachwelt eine Fülle historisch aufschlussreicher Details. Dennoch ergibt sich in der Zusammenschau aller acht Texte ein sehr unvollständiges, geglättetes Bild von Deutschland. Der Versuch, „Deutschland zu erzählen“, gelingt nicht.

Titelbild

Wolfgang Büscher / Christine Kensche / Uwe Schmitt: Acht deutsche Sommer.
Rowohlt Verlag, Berlin 2016.
186 Seiten, 18,95 EUR.
ISBN-13: 9783871348358

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