Neues aus Fürstenfelde

Warum Saša Stanišićs Erzählungsband „Fallensteller“ einen zwiespältigen Eindruck hinterlässt

Von Stefan JägerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Jäger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Provinz hat Hochkonjunktur in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. In ihrem im Frühjahr dieses Jahres erschienenen Roman „Unterleuten“ entwirft Juli Zeh ein Gesellschaftspanorama in der Nussschale innerhalb der Grenzen einer 200-Seelen-Gemeinde in der Brandenburger Ödnis. In ihr stehen sich vielfach überschneidende Konfliktparteien gegenüber – Alteingesessene verbünden oder bekämpfen sich je nach Interessenslage mit den kürzlich aus den Städten Hinzugezogenen, Vogelschützer wenden sich gegen Pferdezüchter, die jüngere Generation gegen die ältere, Töchter gegen Väter, Ehefrauen gegen ihre Männer und Nachbarn gegen Nachbarn. Selbst diejenigen, die sich aus den Dorfstreitigkeiten raushalten wollen, kommen am Ende nicht ungeschoren davon. Neben Zehs Dorf-Kaleidoskop ist auch an Dörte Hansens mittlerweile zum Bestseller avancierten Roman „Altes Land“ (2015) zu denken, in dem sich alles um ein altes Bauerngehöft in der Elbmarsch dreht, oder an Andreas Maier, der mit „Der Ort“ (2015) im letzten Jahr seine Wetterau-Saga fortsetzte. Nicht zu vergessen Saša Stanišić, Gewinner des Preises der Leipziger Buchmesse 2014, der die Handlung seines letzten Romans „Vor dem Fest“ (2014) in das uckermärkische Provinznest Fürstenfelde verlegte. Die Geschichte desselben schreibt der Autor in seinem Erzählband „Fallensteller“, der insgesamt zwölf Texte umfasst, weiter.

In der knapp 100-seitigen titelgebenden Geschichte geht es um einen geheimnisvollen, in Reimen sprechenden und nach Raubtier riechenden Fremden, dem Fallensteller, der an den Rattenfänger von Hameln erinnert. Im Gegensatz zur Sage gibt er in Stanišićs Version vor, nicht nur der Rattenplage Herr zu werden, sondern bietet den Bewohnern Fürstenfeldes Fallen feil „für beileibe alle Nöte, nicht nur für das Tier“. So beauftragen ihn die Dörfler mit verschiedenen Aufgaben: Beispielsweise soll er die Wildschweine vertreiben, die sich gelegentlich bis nach Fürstenfelde vorwagen, die in der Gegend wieder heimisch gewordenen Wölfe in Schach halten oder gar Träume fangen. Doch nach einem Monat ist (fast) alles so wie zuvor: „Die Tiere, die er in Fallen hätte locken sollen, sah man weiterhin überall. Die Wölfe heulten, die Wildschweine gruben, die Mäuse flitzten durch die Backstube, nur die Ratten bei Ulli blieben fort, dafür wurde die erste bei Vogel’s gesichtet.“ Als der Fallensteller dann tatsächlich ein Wildschwein einfängt, bekommt er den abgesprochenen Lohn von den Bittstellern nicht. Zahlen müssen die Dorfbewohner am Ende trotzdem – ein jeder „das, was er verdient“: „Die betrügen wollten, fanden sich betrogen. / Die Lügner wurden zu ihrem Nachteil belogen. / Die Überheblichen vorgeführt. Und Förster Fritz sieben Tage lang entführt.“

Die Erzählung ist eine der gelungensten im Band. Stanišić findet in ihr seinen einzigartigen, für ihn typischen Ton, der voller Witz, Ironie, Fantasiereichtum und Freude am Wortspiel ist. Er vermag es, die Rätselhaftigkeit des Protagonisten die gesamte Geschichte über aufrechtzuerhalten und die liebenswerte Schrulligkeit der Dorfbewohner derart präzise und lebendig darzustellen, dass es eine Freude ist. Die Erzählung kann durchaus für sich stehen, sie setzt die Kenntnis des Vorgängerromans nicht voraus. Ist man mit dem Personal aus „Vor dem Fest“ jedoch bereits vertraut, dann tragen die zahlreichen Querverweise zusätzlich zum Lesegenuss bei. So thematisiert Stanišić augenzwinkernd den Erfolg seines Romans in der titelgebenden Erzählung, in der von einem Schriftsteller die Rede ist, der ein Buch über Fürstenfelde geschrieben hat: „Ein Jugo war das. Aber ein verweichlichter Jugo, ganz ungewöhnlich. Jugo-Schriftsteller halt.“ Seitdem hat sich das verschlafene Provinznest in eine „Literaturmetropole“ verwandelt: „Mehr Literaten als Nazis“ heißt es lakonisch.

Auch die drei Erzählungen, in denen der Justiziar Georg Horvath im Mittelpunkt des Geschehens steht, entwickeln ihren ganz eigenen Drive. Auf seinem Flug nach Rio rekapituliert der Protagonist sein bisheriges, nicht gerade aufregendes Leben, dessen Tragik in der Mittelmäßigkeit liegt. Horvath nimmt es als bedeutungslos, ja geradezu „überflüssig“ wahr: Nicht nur in Südamerika, sondern auch „zu Hause wäre er überflüssig gewesen, aber er hätte dabei unter dem Druck gestanden, sich nützlich zu machen.“ Horvaths Wunsch, einmal „selbst aus der Rolle zu fallen“, wird dann auf geradezu wundersame Weise Realität: Vom Taxifahrer, der ihn zu einer Geschäftsbesprechung bringen soll, wird er mit einer anderen Person verwechselt. Letztlich landet er bei einer rätselhaften Alten, die ihm den Pica-pau-de-cabeça-amarela, den sogenannten Blondschopfspecht zeigt, von dem er auf magische Weise fasziniert ist. Horvath wurde „entführt“ und „verwechselt“, weil „er sich gern verwechseln und entführen ließ. Weil er als der, der er dann war, nicht mehr dorthin musste, wohin er als der, der er gewesen war, gemusst hätte.“ Stanišić gelingt es in diesen miteinander verknüpften Erzählungen, die in ihrer Parabelhaftigkeit an Texte Franz Kafkas denken lassen (nicht umsonst taucht an einer Stelle der Begriff „kafkaeskul“ auf), auf sanfte, aber zugleich eindringliche Art, die Verlorenheit und stille Verzweiflung des Protagonisten zu schildern. Der sprachliche Variantenreichtum überzeugt: Neben Lautmalerischem und zahlreichen Wortneuschöpfungen finden sich immer wieder plastische und einprägsame Bilder.

Doch kann man das nicht uneingeschränkt von allen Erzählungen im Band behaupten. Die ersten beiden Geschichten bleiben trotz des vielversprechenden Inhalts und aller sprachlichen Finessen erstaunlich uninspiriert und schaffen es nicht, den Leser zu fesseln. Dem Autor misslingt es, die Texte zum Leuchten zu bringen. Und auch in manch anderer Erzählung schießt er – vor allem in sprachlicher Hinsicht – über das Ziel hinaus. Spätestens wenn von „unwirschen Hirschen“ die Rede ist, von „unironischen Kapitänsmützen“ oder von einer Halbschwester, die aussieht wie „ein kleiner, gerade druckender Drucker“, driftet Stanišićs Wortwitz ins Lächerliche und Kalauerhafte ab. Auch vor inhaltlichen Plattitüden ist man das eine oder andere Mal nicht gefeit, etwa wenn es in der Erzählung „Mo klaut ein surrealistisches Gemälde einer syrischen Surrealistin und will es seinem Vater verkaufen, bzw. egal wem“, definitiv eine der schwächeren im Band, heißt: „Als Polizist hast du es im Blut zu helfen, außer in den USA, da hast du es auch mal im Blut, Blut zu vergießen.“ Da macht es dann auch die „heftig haftende Haarpomade“ nicht besser. Während einiges zu gewollt witzig und originell daherkommt, verbleibt anderes im Beliebig-Belanglosen, zuweilen gar Nichtssagenden.

Unklar ist, in welchem Zeitraum die Erzählungen entstanden sind: nach Stanišićs Erfolgsroman „Vor dem Fest“ oder zum Teil davor? Gerade wegen der unterschiedlichen Qualität der Erzählungen bleibt unverständlich, warum alle in dieser Form Eingang in den Band gefunden haben; hier hätte der Verlag respektive der Lektor stärker eingreifen müssen. Als verlagsseitige Strategie zu werten ist die Tatsache, dass Stanišićs Erzählungen vom Verlag nicht als solche angekündigt wurden, sondern als „Roman“. Auch auf dem Buchcover findet sich kein Hinweis über die epische Gattung des Dargebotenen. Klar ist, dass dies den Verkaufszahlen nicht abträglich sein wird. Erzählungen verkaufen sich eben einfach nicht so gut wie Romane. Der Titel ist in jedem Fall wörtlich zu nehmen: „Fallen“ stellt uns nicht nur der Autor in seinen Texten, sondern auch der Verlag.

So bleibt insgesamt ein etwas zwiespältiger Eindruck von Saša Stanišićs Erzählungen. Den hohen Erwartungen, die nicht nur sein letzter Roman „Vor dem Fest“, sondern bereits sein Debüt „Wie der Soldat das Grammophon repariert“ (2006) geweckt hat, werden die Erzählungen nur teilweise gerecht. Dennoch darf man auf die weitere literarische Entwicklung des außerordentlich fantasievollen und oft sprachwitzigen Autors gespannt sein.

Titelbild

Saša Stanišić: Fallensteller.
Luchterhand Literaturverlag, München 2016.
282 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783630874715

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