Verblichene Spuren, unsichere Identitäten, keine Lösungen

Mirko F. Schmidts Monographie über den „Anti-Detektivroman“ stellt ein Subgrenre der Kriminalliteratur vor

Von Manuel BauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manuel Bauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Städte sind labyrinthisch, die Leichen namenlos, zuweilen auch die Detektive wider Willen. Ermittlungen erweisen sich als odysseeische Erkundungen des Unerkundbaren, ohne je zu einem Ithaka zu führen. Sie verschlagen das ermittelnde Ich, dessen Identität ebenso fragil ist wie die Erzählstruktur der Romane, zu immer neuen Stationen, deren Kohärenz allenfalls eine Konstruktion des zur Aktivität gezwungenen Lesers ist. Die Detektionen laufen ins Leere, da es für die Probleme mangels benennbarer Sinnzusammenhänge keine Lösungen gibt – oder der detektivischen Lösung mangelt es an einem Problem, einer aufzulösenden Tat. Jenseits verborgener Wahrheiten, die ein logisch operierender Detektiv mit Hilfe seiner ‚kleinen grauen Zellen‘ entbergen kann, ist das fragmentierte Subjekt sich selbst rätselhaft, ohne je die Hoffnung gewinnen zu können, einen Schlüssel für dieses Rätsel zu finden. Jede Fährte ist eine falsche, da es keine richtige mehr gibt. Wer könnte deren Richtigkeit auch verbürgen? Wer zeugt für den Zeugen, wenn dieser selbst dubios ist und jede Fähigkeit verloren hat, die Welt zu ordnen?

Mirko F. Schmidts imposante Studie über den „Anti-Detektivroman“ stellt ein Textmodell vor, das dergleichen Schwierigkeiten exponiert, indem es die zugrundeliegende Folie des klassischen Detektivromans mittels unterschiedlicher inter- und architextueller Bezüge subvertiert. Wie beim Erzähler in Patrick Modianos „Die Gasse der dunklen Läden“ (1978) – dessen programmatischer erster Satz „Ich bin nichts“ lautet – sind sich die Ermittler in diesen Texten längst selbst zum Problem geworden. Sie sind keine souveränen Denker und Spurenleser oder raubeinigen Schnüffler mehr. Sie sind – nichts. Und deshalb weniger auf der Suche nach der Identität eines Täters als vielmehr ihrer eigenen, wie das für Modianos Protagonisten und Erzähler buchstäblich zutrifft, der sein Gedächtnis verloren hat und wie ein (dilettierender) Detektiv seine eigene Vergangenheit anhand von Photographien und Befragungen zu rekonstruieren sucht. Doch ihm fehlt bei allem, was er tut, der feste Punkt. Dieser identitätslose postmoderne Detektiv ist der idealtypische Held des Anti-Detektivromans – eines Subgrenres der Kriminalliteratur, das Schmidt mit großer Kennerschaft und theoretischer Versiertheit vorstellt. Zwar erwähnen einführende Bücher in das Genre der Kriminalliteratur die Spielart des Anti-Detektivromans gelegentlich, eine umfassende deutschsprachige Monographie zum Thema aber lag bislang nicht vor.

Zunächst leistet Schmidt eine kluge Rekonstruktion des klassischen Detektivromans. Dies erbringt zwar wenig neue Erkenntnisse, präsentiert aber, im steten Rückbezug zu einschlägigen theoretischen Überlegungen, kompakt die wichtigsten literarischen Varianten und Entwicklungen wie den Rätselroman und den hardboiled-Krimi, wobei das Erkenntnisinteresse eher systematisch als historisch ist. Diese Rekonstruktion ist heuristisch notwendig, da der Anti-Detektivroman ohne die traditionellen Modelle des Detektivromans nicht denkbar wäre, benötigt er doch „die tradierten Muster und Regelkodizes, um Gegenkonzepte zu entwerfen, Rezeptionsgewohnheiten zu unterlaufen oder mit ihnen zu spielen“. Nicht nur, dass das klassische Whodunit außer Kraft gesetzt wird, auch grundlegende Ordnungsmuster wie Logik, Zeit und Raum werden wie die Identität des Ermittlers oder des Erzählers unzuverlässig. Kurz: Die epistemologische, semiotische und logische Basis der klassischen Detektiverzählung wird in postmoderner Manier ebenso infrage gestellt wie deren wirkmächtige Grundmuster und die von ihnen ausgelösten Erwartungshaltungen. Das zeigt Schmidt nach einem Überblick über die bisherige Forschung (wobei generell auffällt, dass keinerlei Forschungstitel der letzten ca. zehn Jahre berücksichtigt werden) und einer an Gérard Genette geschulten, theoretischen Einordnung des Phänomens des Anti-(Detektiv-)Romans, zunächst an frühen Beispielen der Anti-Detektivliteratur, etwa bei Jorge Luis Borges oder im Nouveau roman.

Einzelanalysen über sechs Anti-Detektivromane von Kobo Abe, Patrick Modiano, Antonio Tabucchi, Paul Auster und Jean-Philippe Toussaint, allesamt aus dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts, machen den bei weitem größten Teil der Studie aus. Alle diese Analysen sind grundsätzlich überzeugend und bringen eine Vielzahl erhellender Einsichten an den Tag, sie hätten allerdings auch etwa straffer ausfallen können (wie die Studie ohnehin einen Hang zur Redundanz nicht verleugnen kann). Zudem wirkt es etwas manieriert und inkonsequent, dass die durchgängig fremdsprachigen Texte teilweise in Übersetzung, teilweise im Original zitiert werden, auch dann, wenn greifbare Übersetzungen vorliegen. Auffallend ist auch das nachlässige Lektorat, da sich formale Fehler und Unstimmigkeiten in einer doch bemerkenswerten Anzahl finden lassen.

Von diesen marginalen Einwänden abgesehen, stellt sich inhaltlich unter anderem die Frage, ob es keine deutschsprachigen Anti-Detektiverzählungen von Rang gibt oder schlichtweg nur nicht in den Fokus des Verfassers geraten sind; darüber hinaus, ob – wie bei typologisierenden Dichotomien freilich nicht unüblich – nicht auch Gegenbeispiele für das anfangs eingeführte Modell angeführt werden könnten, etwa konventionellere Detektivromane, in denen der Ermittler neben der Suche nach dem Täter immer auch auf der Suche nach seiner eigenen Identität ist (wobei das, zugestanden, kaum je mit der Radikalität und den erzählerischen Mitteln geschieht, wie sie für den Anti-Detektivroman prägend sind). Dass das Buch derlei Fragen (und zahlreiche andere) aufzuwerfen imstande ist, spricht in außerordentlichem Maße dafür, dass Schmidt ein Beitrag gelungen ist, der weit über die Einzeltextanalyse hinaus äußerst anregend wirken kann, indem er nicht nur ein von der deutschsprachigen Literaturwissenschaft bislang weitgehend unbeachtetes Subgenre verstellt, sondern über grundlegende Spielregeln der Kriminalliteratur nachdenken lässt. Außerdem zeigt diese Studie, wie fruchtbar Krimi-Modelle auch und gerade von avancierten und komplexen literarischen Texten aufgegriffen, variiert und weitergeführt (oder dekonstruiert) werden können.

Titelbild

Mirko F. Schmidt: Der Anti-Detektivroman. Zwischen Identität und Erkenntnis.
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2014.
300 Seiten, 34,90 EUR.
ISBN-13: 9783770552757

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