Der flüchtigen Erinnerung auf der Spur
Ulrich Matthes liest Patrick Modianos „Damit du dich im Viertel nicht verirrst“
Von Felix Breuning
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseIn der Erinnerung an das eigene Leben verschlingen sich unentwirrbar Gegenwart und Vergangenheit. Patrick Modianos Erzählung „Damit du dich im Viertel nicht verirrst“ nähert sich dieser flüchtigen Unentscheidbarkeit, die unser eigenes Früher umgibt. War es wirklich so, damals, oder haben wir etwas hinzugefügt, falsch interpretiert, vergessen? Können wir es wissen?
Die eigentliche Handlung steht in „Damit du dich im Viertel nicht verirrst“ nicht im Zentrum und ist schnell erzählt: Der zurückgezogene Pariser Schriftsteller Jean Daragane verliert sein Adressbuch und erhält es von einem Unbekannten zurück. Daraufhin wird er seltsam schnell und unabwendbar in dessen Leben hineingezogen und fühlt sich zur Erinnerung und Erforschung der eigenen Kindheit geradezu gezwungen. Unerklärlich nur, wieso und auf welchen verschlungenen Wegen die unscheinbaren äußeren Anlässe unwillkürlich Daraganes Erinnerungen wachrufen. Er ist nicht eigentlich alt, doch die Vergegenwärtigung seiner Jugend mit und ohne Eltern fällt ihm unendlich schwer. Gerade die Konflikte zwischen Abwehr und Neugier und zwischen der flüchtigen Erinnerung und ihrem hartnäckigen Verfolger erforscht der Roman. Eine zweite Linie spürt den vielfältigen Verhältnissen des Erinnerns, des Vergessens und des Alterns zum Schreiben nach.
Modianos Ausgangspunkt ist die beklemmende Erfahrung, dass selbst die eigene Gegenwart infrage gestellt werden kann, wenn unerhörte Wiederholungen und Parallelen das Gefüge von Heute und Gestern erschüttern. Daraganes Vordringen wird äußerlich sparsam erzählt, gleichsam wie in einem Versuchsprotokoll, das sich wegen der Schwierigkeit und Undurchdringlichkeit des Problems größtmögliche Klarheit über alle Schritte verschaffen will. Während sie immer wieder auf dieselben Passagen aus Daraganes Kindheit zurückkommt, verflechtet Modianos Erzählung allerdings geschickt verschiedene Zeitebenen der Jugend und des Erwachsenseins, um die komplexen Wechselspiele zwischen beiden an die Oberfläche zu bringen. Die Erinnerung zu ergründen, benötigt stetige Kraft.
Ulrich Matthesʼ knapp vierstündige Lesung für Hörbuch Hamburg interpretiert die Intimität und Fremdheit des eigenen Gedächtnisses ganz wunderbar: Er intoniert unaufgeregt, als würde die Geschichte selbst vom Niemandsland der Erinnerung oder des Traumes aus erzählt, das nicht einfach jetzt, nicht einfach früher ist. Matthes haucht und flüstert häufiger als dass er die Stimme hebt, er moduliert nie auffällig und verleiht den verschiedenen Personen doch genügend Differenz.
Dass eine wesentlich erinnerte Geschichte sich einer alles klärenden Auflösung entziehen muss, liegt auf der Hand. Auch dank Matthes ist das aber kein Nachteil, sondern die Einladung zum zweiten, sensibleren Hören.
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