Ambivalenzen und Verspätungen

Kristina Meyer wirft Licht auf den Umgang der SPD mit der nationalsozialistischen Vergangenheit

Von Jens FlemmingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Flemming

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Kapitulation der Wehrmacht war in Sicht, aber noch nicht vollzogen, als Kurt Schumacher am 6. Mai 1945 vor sozialdemokratischen Funktionären in Hannover ein Grundsatzreferat hielt. Im Angesicht der zusammenbrechenden Diktatur bekundete der Redner seinen Führungsanspruch in der wiedererstehenden Partei. Die programmatischen Perspektiven, die er entwarf, fußten – den Traditionen der Sozialdemokratie entsprechend – auf marxistisch grundierter Vergangenheitsanalyse. Die Wurzeln des Nationalsozialismus lokalisierte er im deutschen Imperialismus, hervorgewachsen aus einem „Bündnis der Schwer- und Rüstungsindustrie“ oder anders gesagt: „des gesamten modernen Finanzkapitals mit den Kräften des preußisch-deutschen Militarismus“. Der NSDAP sei die restlose Mobilisierung der „menschlichen Dummheit“ gelungen, die „nationale Revolution“ von 1933 sei nichts anderes gewesen „als der Aufstand der Taugenichtse“. Deren tatsächliche Funktion habe sich in der Rolle von „nationalistischen Unternehmerknechten“ erschöpft. Scharf geißelte Schumacher die Heerscharen der Profiteure und Mitläufer, deren „Mitschuld“ an der „Blutherrschaft der Nazis“, gegründet auf „Diktatur- und Gewaltglauben“, offen zu Tage liege. Diejenigen, die das alles heraufbeschworen hätten, müssten unschädlich gemacht werden, und den „heimatlos gewordenen Nazis“ dürften die „politischen Parteien in Deutschland keinen Unterschlupf“ gewähren. Wer dagegen verstoße, müsse damit rechnen, anfangs von eher harmlosen Ehemaligen, dann jedoch bald von Aktivisten überschwemmt und unterminiert zu werden.

Das klang nach entschiedener Haltung und konsequenter Abwehr und war eingebettet in den Anspruch der Sozialdemokratie als „polare“, überzeugungsfeste Gegenspielerin des braunen Regimes, die in Emigration, Illegalität und Haft schwere Opfer gebracht habe, beim Wiederaufbau des Landes in vorderster Reihe zu stehen. „Dieses Volk braucht den großen Anschauungsunterricht, daß jedem Verbrechen seine Sühne folgt“, präzisierte Schumacher einige Wochen später auf der ersten Parteikonferenz in Wennigsen bei Hannover. Das zielte auf die „kriminellen Naziverbrecher“ ab, die „bis zur Vernichtung verfolgt werden“ müssten. „Den anderen“ aber, den Mitläufern, Sympathisanten, den Verführten (ein damals inflationär benutzter Begriff) müsse „geholfen“ werden: „Sie müssen eingeordnet werden in das große Geschehen der Nation und der Welt.“ Namentlich die Jugend, die „arm und verlassen“ sei, „resigniert und mutlos“, sollte der Adressat einer neuen Politik werden: „Wir müssen ihr sagen, daß wir ihre Mitarbeit brauchen, daß es in ihrer Hand liegt, daß ihr Leben wieder Freude und Aussicht bekommt, daß die Deutschen keine Nation ohne Zukunft zu sein braucht.“ Schon zuvor, im August 1945, hatte Schumacher ungeachtet mancher Vorbehalte die Hand ausgestreckt: „Wir stoßen“, hieß es in einem Aufruf, „auch diejenigen nicht zurück, die aus Angst und Ahnungslosigkeit ihren Teil zu dem großen Unglück beigetragen haben“.

Wie weit aber sollte die Integrationsbereitschaft gehen? Diese Frage wirft Kristina Meyer in ihrer solide recherchierten und klug argumentierenden Studie über den Umgang der SPD mit der NS-Vergangenheit auf. Und sie fügt gleich weitere hinzu: Was waren die Motive dafür, dass „noch vor kurzem verfolgte Sozialdemokraten“ dafür plädierten, ihre Partei für ehemalige Nationalsozialisten zu öffnen; was brachte einige ihrer Repräsentanten dazu, Kontakte zu Angehörigen der Hitlerjugend und der Waffen-SS zu suchen; welche Überlegungen leiteten sie, sich für die „Begnadigung verurteilter NS-Verbrecher“ einzusetzen; warum agierte man relativ zögerlich bei der Ausweitung der Wiedergutmachung für NS-Verfolgte; warum sprach sich die Sozialdemokratie zwar gegen Hans Globke aus, der trotz seiner Mitwirkung an der Rassegesetzgebung in Adenauers Kanzleramt als Staatssekretär amtierte, nicht aber gegen das einstige NSDAP-Mitglied Kurt Georg Kiesinger als Regierungschef der Großen Koalition von 1966? Sodann: Wie gestaltete sich die Kommunikation in der Partei, unter den Funktionären, zwischen den Generationen, zwischen den Emigranten und den im Lande Gebliebenen, über das „Dritte Reich“? Und schließlich: Agierten Sozialdemokraten in den Debatten über die NS-Vergangenheit offensiv oder defensiv, gehörten sie hier zu den voranschreitenden Kräften oder waren sie, wie die Autorin formuliert, eher „Getriebene gesellschaftlicher Trends und Bedürfnisse?“

Die Antwort lautet: beides. Auf’s Ganze gesehen überwiegen die Ambivalenzen und Widersprüche, die Gratwanderungen und Verspätungen. Wenn das ‚Beschweigen’ der Vergangenheit zur Signatur der frühen Bundesrepublik gehört, dann war die SPD davon ebenfalls nicht frei. Enttäuschungen blieben daher nicht aus. Meyers Buch liefert aus dem gerade in dieser Hinsicht komplizierten Innenleben der Sozialdemokratie zahlreiche Beispiele. Durch diese immer wieder eingestreuten Episoden gewinnen die Analysen und Interpretationen ein hohes Maß an Anschaulichkeit. Zu Wort kommen nicht allein Angehörige der oberen Parteietagen, sondern auch ganz gewöhnliche Genossen aus den Bezirken und Ortsgruppen. So bat im Herbst 1948 ein aus Breslau stammender, von den NS-Behörden drangsalierter und mittlerweile in Schleswig-Holstein lebender Funktionär das Mainzer SPD-Organ „Die Freiheit“ um Auskunft, warum es so wenig über den Nazi-General Erich von Manstein berichte, der sich wegen Kriegsverbrechen vor Gericht zu verantworten hatte. Die Erklärung des 1936 emigrierten und 1946 zurückgekehrten Chefredakteurs Günter Markscheffel fiel ernüchternd aus. Die Mehrheit der Bevölkerung, schrieb er, wolle von den Untaten im Befehlsbereich des Angeklagten nichts wissen, auch die „eigenen Genossen“ zeigten so wenig Interesse, dass man sich entschieden habe, gar nichts mehr über den Prozess zu bringen.

Unter diesen Bedingungen war es außerordentlich mühsam, den vom NS-Regime verfolgten und geschädigten Sozialdemokraten zu ihrem Recht, zu gesellschaftlicher Anerkennung und wenigstens einem Minimum an materieller Wiedergutmachung zu verhelfen. Die Schilderung der darüber diesseits wie jenseits des Parlaments ausgefochtenen Kämpfe nimmt breiten Raum in Meyers Studie ein. Zu einem gewissen Abschluss gelangten jene erst 1965 mit den Ergänzungen zum Bundesentschädigungsgesetz von 1953, auf die allerdings etliche, sich über Jahre hinziehende Verhandlungen zur Milderung von Härtefällen folgten. Es war, wie Kristina Meyer konstatiert, „Wiedergutmachung in kleinen Schritten“, für die in der bundesdeutschen Gesellschaft nur geringe Akzeptanz vorhanden war. Entsprechend schwer hatte es die SPD, ihren Anliegen das nötige Gehör zu verschaffen. Ähnliches galt für die Kontroversen um die Verjährung nationalsozialistischer Mordtaten, in denen Sozialdemokraten ihre Positionen gegen eine weithin vorherrschende Mentalität des Schlußstrichs zu behaupten hatten. Adolf Arndt, der Kronjurist der Partei, setzte hier den moralpolitisch gebotenen Kontrapunkt. Die Deutschen hätten, argumentierte er am 10. März 1963 im Bundestag, „ein Gebirge an Schuld und Unheil“ abzutragen. Er wisse sich mit in der Verantwortung, habe „nicht genug getan“ gegen die vom NS-Regime vor aller Augen betriebene Politik der Diskriminierung, Stigmatisierung und Entrechtung Andersdenkender, namentlich der Juden. Das sei das Erbe, sei die „geschichtliche und moralische Schuld“ der Deutschen, die zu schultern von jedem Einzelnen Einkehr, Rechenschaft und Umkehr erfordere.

Während die konservative und militärische Opposition, gipfelnd im gescheiterten Attentat vom 20. Juli 1944, Jahr für Jahr mit einigem Aufwand öffentlich gewürdigt wurde, war es um die Erinnerung an die verschiedenen Formen sozialdemokratischer Resistenz, die sich nicht erst im Angesicht der Götterdämmerung des Regimes, sondern gleich nach 1933 bemerkbar gemacht hatte, eher schlecht bestellt. Das lag zum Teil an der Partei selbst, die auf einen – wie die Autorin konstatiert – „harmonisierenden Schulterschluß mit den anderen Kräften der Widerstandsbewegung“ aus war, um den Preis freilich, dass die eigenen Leistungen und die gebrachten Opfer marginalisiert wurden. Hinter dem dabei gepflegten Bescheidenheitsgestus verbarg sich die „Idee eines klassenübergreifenden, in seinen humanistischen Zielen vereinten Widerstands“, die zu einer Art Leitlinie erhoben wurde. Widerspruch dagegen, vorgetragen etwa von der „Arbeitsgemeinschaft verfolgter Sozialdemokraten“, die im innerparteilichen Getriebe allerdings wenig Gewicht hatte, stieß auf nur geringe Resonanz. Erst in den 1980er-Jahren, parallel zu Öffnungstendenzen in der Geschichtswissenschaft und unterstützt durch die 1982 ins Leben gerufene „Historische Kommission beim Parteivorstand der SPD“, differenzierten und pluralisierten sich die Erinnerungsräume, wurden die Traditionen der sozialdemokratischen Opposition gegen Hitler trennschärfer vergegenwärtigt und offensiv gegen Angriffe aus den Reihen konservativer Gegner verteidigt.

Den sogenannten Mitläufern der NS-Diktatur großzügig Eintritt zu gewähren, mochte nach 1945 dem entsprechen, was seit Eugen Kogons Diktum vom „Recht auf den politischen Irrtum“ in der Welt war. Um Mitglieder über den Kreis des alten sozialdemokratischen Milieus hinaus zu rekrutieren und die Mobilisierungsfähigkeit der Partei zu verstärken, verfuhr man offenbar recht großzügig, attestierte ehemaligen Nationalsozialisten fehlgeleiteten Idealismus, eine Formel, die den Entlastungs- und Harmonisierungsbedürfnissen der Deutschen weit entgegenkam. Genaue Zahlen, wie viele Ehemalige auf diese Weise bei der SPD Unterschlupf fanden, fehlen, auch bleibt unklar, inwieweit diese die Vergangenheitspolitik der Partei beeinflussen konnten oder nicht. Spätestens seitdem wir wissen, daß Hinrich Wilhelm Kopf, der erste Ministerpräsident Niedersachsens, während des Krieges in Himmlers „Treuhandstelle Ost“ mithalf, Polen und polnische Juden auszuplündern, ist die Debatte um die NS-Belastung einzelner Sozialdemokraten in ein neues Stadium getreten. Kristina Meyer berührt dies am Ende ihrer Studie nur beiläufig, weil das über ihren Untersuchungszeitraum hinausreicht, ist sich aber sicher, dass die SPD, die sich schließlich ein „kritisches Geschichtsbewußtsein“ zugutehalte, derartigen Debatten „auch künftig“ nicht würde „ausweichen können und wollen“. Wie groß die Bereitschaft dazu sein wird, bleibt abzuwarten. Was bislang aus Parteikreisen zu hören war, stimmt wenig optimistisch. Für die historische Forschung öffnet sich hier jedoch, aufbauend auf den von Kristina Meyer überzeugend präsentierten Materialien und Befunden, ein neues Feld, das weiterer Bearbeitung harrt.

Titelbild

Kristina Meyer: Die SPD und die NS-Vergangenheit. 1945-1990.
Beiträge zur Geschichte des 20. Jahrhunderts, Bd. 18.
Wallstein Verlag, Göttingen 2015.
549 Seiten, 42,00 EUR.
ISBN-13: 9783835313996

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