Liebe, Projektion und Rausch als Abgrund
Warum Rafael Chirbes Roman „Paris-Austerlitz“ so unglücklich macht – und warum das schön ist
Von Dafni Tokas
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseEin junger Mann aus gutbürgerlichem Hause flieht vor den Ansprüchen seiner Familie nach Paris. Mit Paris ist allerdings nicht das glänzende, geschäftige, glückliche Paris der Reichen gemeint, es sind nicht die beleuchteten Hauptstraßen und geschmückten Hausfassaden einer schillernden Metropole, sondern vielmehr die schmutzigen, versteckten Ecken der französischen Hauptstadt; es sind die dunklen Hinterhöfe, die sich im Kreis drehende Hoffnungslosigkeit der Kneipengänger spät nachts, die graue Endlosschleife aus Rausch, Erregung, Arbeit und Not. Der junge Mann ist Erzähler und Protagonist der Geschichte, ein spanischer, homosexueller Maler – und nun, da er seine Familie verlassen hat, ohne Job und Geld. Gut gekleidet, wunderbar duftend und mit festen Lebenszielen im Hinterkopf rutscht er sehr schnell ab in eine Welt, die nach Alkohol, Schweiß und Sex riecht, mitten in die Arme Michels, eines rund 30 Jahre älteren Arbeiters mit kräftigen Armen, kurzen Fingern, rauhen Handflächen und rosigen Wangen.
Was sich anfangs wie beidseitige Zuflucht anfühlt, entpuppt sich schon nach kurzer Zeit als Gefangenschaft: Der Mann mit dem Alters-, Klassen- und Bildungsunterschied ist eifersüchtig, besitzergreifend, zuweilen gewalttätig, dann wieder wirkt er zart und gebrochen, bedürftig und hingebungsvoll. Aus der Tatsache, dass er dem jungen Maler in einer verzweifelten Lage ein Zuhause und Schutz bot, entsteht das dialektisch aufgeladene Gefühl der andauernden gegenseitigen Verpflichtung. Hinzu kommt Michels Krankheit, die immer weiter fortschreitet und von der sich der Protagonist ebenfalls gefährdet sieht. Er kümmert sich um den langsam zerfallenden Michel – doch mit Widerwillen. Der ruppige, unwirsche Mann aus der Arbeiterklasse mit seinen hohen emotionalen Forderungen wird immer schwächer, seniler, blinder. Die Liebe für den Erzähler weicht aus seinen Augen und gilt mit der Zeit mehr den Erinnerungen an die Vergangenheit, die er nur noch über alte Briefe kurzzeitig wiederzubeleben weiß.
Rafael Chirbes‘ Roman Paris-Austerlitz setzt jedoch ein, als Michel bereits gegen seine Krankheit verloren hat. In der Retrospektive beschreibt der Erzähler, ein eben nicht nur junger, sondern auch äußerst sympathischer Möchtegern-Dandy mit bitterem Humor, auf einfühlsame Weise sein gespaltenes Verhältnis zu Michel. Michel, dessen ziellose Routine in der winzigen Wohnung kein Ende zu nehmen scheint, Michel, der bereits zahlreiche Liebhaber hatte, Michel, der Zuwendung braucht, Michel, der kalt, barsch und ablehnend sein kann, Michel, der sich betrinkt, Michel, der in klaren Momenten unglücklich wird, Michel, der das Bedürfnis nach Aufmerksamkeit nicht von Liebe unterscheiden kann. Das alles ist eingefärbt von der anziehend rauen Atmosphäre des Abseitigen, man spürt förmlich die Enge der Treppenhäuser und Herzen, riecht den Staub der kleinen Wohnungen, hört die Streitereien und das trockene Gelächter in den Straßen und Kneipen, sieht das fahle Licht durch die beschlagenen Fenster der alten Wohnhäuser fallen. Der Protagonist taucht in eine Parallelwelt ab, die er mitsamt seinem fragwürdigen Partner vor seiner Familie zu verheimlichen versucht. Chirbes weiß die Sogkraft der ungeschliffenen Pariser Quartiers elegant einzusetzen. Konzentriert sich die Geschichte auf die diffizile, von Anbeginn zum Scheitern verurteilte Beziehung des Erzählers zu Michel, so nimmt der Leser doch vor allem die feinen sozialen Muster wahr, die in der beschriebenen Gegend vorherrschen, und kann sich auch von dem Erzähler so weit distanzieren, dass auch dessen problematische Züge befremdend wirken können. In dieser Geschichte ist also trotz der Beklemmung Platz für Distanz – Chirbes baut ein Spannungsfeld auf, das ausgezeichnet funktioniert.
Erzähltechnisch besonders gelungen sind die personalen Perspektivwechsel des Erzählers, die fließenden zeitlichen Übergänge der Ereignisse und der fast klebrige Charme eingeschobener französischer Phrasen, mit denen der Protagonist seinen Liebhaber zitiert. Die Vorgeschichte der beiden Liebenden und Leidenden wird bis zum Schluss in bruchstückhaften Erinnerungsfetzen aufgearbeitet, von denen einige in ihrer Intensität und Klarheit einer Filmszene würdig wären. Ernüchternd und kompromisslos gestaltet Chirbes eine von platten Songtexten und leeren Phrasen der Zuneigung erstickte Welt, in der es sich manchmal nicht mehr lohnt, noch zu fragen, was Liebe ist. Der Erzähler allerdings kommt von der Frage nicht los und sieht sich immer mehr als das Werkzeug Michels, fühlt sich benutzt und nicht als individuelle Persönlichkeit verstanden. Es gibt in Chirbes‘ Roman keine Sekunde der Leichtigkeit. Nur die unerträgliche, sich selbst verzehrende, krankhafte Liebe persistiert als Eindruck bis zum letzten Satz, genauer bis zum letzten Atemzug Michels. Selbst die verliebtesten und glücklichsten Leserinnen und Leser werden nach dieser Lektüre wenigstens eine Nacht lang an dem Konzept der bedingungslosen Liebe zweifeln, oder, schlimmer noch, ganz im Sinne Michels Liebe als Abgrund verstehen, den heftigsten Streit als das notwendige Übel jeder zwischenmenschlichen Nähe, und sogar die fatalistische Vorstellung unsterblicher, besitzergreifender, beißender Liebe schmerzlich nachempfinden können, wenn sie ihnen je abhandenkam.
Dieses Risiko lohnt es sich einzugehen: Mit Paris-Austerlitz hat Chirbes noch kurz vor seinem Tod einen würdigen Schlussstein in ein ohnehin eindrucksvolles Gesamtwerk gesetzt, das sich mit Franquismus, spanischer Gegenwart und der bedrückenden Fantasielosigkeit des Kleinbürgertums unter der Diktatur beschäftigte. In diesem letzten Werk wird der Rahmen am Ende ganz klein, und der Romancier beschränkt sich auf die sublimen Zwischentöne einer nur scheinbar grobschlächtigen Unter- bis Mittelschicht. Auch die Übersetzungsleistung von Dagmar Ploetz ist wie erwartet positiv hervorzuheben und transferiert idiomatische Nuancen ohne Irritationen in das Deutsche, sodass ein authentisches Leseerlebnis in jedem Fall gegeben ist. Zwischen etlichen Veröffentlichungen auf dem Buchmarkt, die sich von Kitsch und Wiederholung nicht mehr befreien können, bietet Chirbes‘ letzter Roman daher eine willkommene Abwechslung in direktem, unverfälschtem Ton.
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