Schweigen in sieben Sprachen
Diane Brockhoevens „Was ich noch weiß“
Von Juliane Witzke
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDer Roman hat ein großes Problem: seinen Klappentext und die daraus resultierende Vernichtung jeglicher Spannung, die das Buch prinzipiell zu bieten hat. Sie kreist zum einen darum, dass die Affäre zwischen der Protagonistin Manon und ihrem ehemaligen Schwiegervater aufgedeckt wird; zum anderen erleidet sie eine Gehirnblutung und ihre Kinder warten darauf, ob sie aus dem Koma erwacht. Auf der Buchvorderseite wird diese Handlung ausführlich resümiert, und das Buchinnere bietet die Details dazu.
Das zentrale Element – ein roter Samtsessel – findet sich auf dem Umschlag wieder, wird im Prolog eingeführt und beendet den Roman. Diese „Ein-Personen-Insel in harten Zeiten“ beherbergt zwischen der Sitzfläche und den Armlehnen „Lebenskrummen“ und fungiert als Zufluchtsort für die Protagonistin, denn hier findet sie Schutz vor den Zumutungen des Lebens. Unbefugten ist das Betreten dieser Privatinsel verboten – der Schwiegervater jedoch überschreitet diese Grenze und Manon wagt nicht, ihn zu vertreiben. Und auch der Sohn übertritt dieses Verbot und platziert sich „ein wenig scheu“ auf der „Gebärmutter ihres Hauses“. Außer ihr betreten lediglich diese zwei Personen den Sessel, und gleichzeitig gelingt es auch nur ihnen, sich wirklichen Zutritt zur Gefühlswelt der Protagonistin zu verschaffen. Darüber hinaus symbolisiert das Möbelstück den Lauf der Zeit, steht für eine wachsende weibliche Selbstbehauptung und zeigt Spuren der Abnutzung ähnlich der alternden Manon.
Broeckhoven führt aber auch vor, wie konträr eine Mutter ihre Kinder wahrnehmen kann und rückt geschlechtsspezifische Eigenarten in den Vordergrund. So fungieren die beiden Töchter als Einheit mit der Mutter, obwohl sie sehr gegensätzlich sind, und Manon spürt einen Gleichtakt der drei Frauen. Das Verhältnis zwischen Mutter und Sohn ist grundlegend anders gestaltet, und so fühlt sich Manon durch Peter ausgebremst, ihre Beziehung ist voller Spannungen. Weiterhin scheint es, als ob sie keine gemeinsame Sprache hätten, und der Sohn verhält sich überwiegend sehr schweigsam ihr gegenüber. Schon in seiner Kindheit erlebte er, dass sein Vater dann am tiefsten schwieg, wenn seine Mutter am lautesten weinte. Spürbar wird auch der Wunsch danach, eine perfekte Mutter zu sein: So versucht die Protagonistin, duldsam zu agieren, wird vom Sohn aber trotzdem als „hysterisch“ bezeichnet. Gegenbildlich dazu ist der Schwiegervater gestaltet, der Stille nicht erträgt und viel redet, um mit der Krankheit seiner Frau umzugehen. Nachdem Manon eine Gehirnblutung erleidet, geht dies mit einem Verlust ihrer Sprache einher – und so wandelt sich die früher redselige Person in eine sprachlose Frau. Schritt für Schritt erlernt sie einzelne Wörter neu, findet ihre Sprache wieder und entdeckt sich dabei selbst. Hierbei wird ein Bezug zum Titel deutlich, da die Protagonistin auf den Deckel einer Schachtel eben diese Worte „Was ich noch weiß“ schreibt und ihre während der Genesung entstehenden Sätze einfängt und ordnet. An diesen Stellen nimmt die reduzierte Sprache des Romans eine lyrische, sehr bildliche Gestalt an; so ist beispielsweise zu lesen: „Sie kamen zurück. Von selbst. Beim Frühstück fiel unerwartet ein Wort auf mein Butterbrot, oben auf den Käse. Mittags schwamm ein kurzer Satz in meiner Suppe, zwischen den Buchstaben. Zwischen den Zeilen meiner zerschnippelten Geschichte schlich die Sehnsucht, so groß und tief, dass ich keine Worte dafür fand.“
Strukturell stellt der Roman einen Perspektivwechsel zwischen Mutter und Sohn dar wodurch der Leser ansatzweise zwei Innenleben erfährt. So schildert Peter zum Beispiel, was die Trennung seiner Eltern bei ihm bewirkte und wie diese letztendlich nur noch als Vater und Mutter für ihn übrig waren, denn „als Zweigestirn waren sie tot“. Auch der Distanzierungswunsch des Jungen von der Mutter und sein Verlangen danach, es anders beziehungsweise besser als die eigenen Eltern zu machen, geht in die Beschreibungen ein.
Generell zeichnet das Buch eine relativ lange Zeitspanne nach, wobei ein Zeitsprung von 1987 in das Jahr 1994 und später in die Jahre 2008 und 2009 erfolgt. Ausschnittsweise berichtet die flämische Autorin aus dem Leben einer Familie und mit Ausnahme einer recht amüsanten Trauerreise des Enkels mit einer Rentnergruppe in die Toskana herrscht eine gewisse Ortlosigkeit. Der Schwiegervater wird als sehr vitaler, eitler, innovativer Mann charakterisiert, der vom Mobiltelefon des Busfahrers – der damals neuesten Erfindung – fasziniert ist und seiner Zeit weit voraus scheint. Der Roman versucht die Gründe für die Affäre offenzulegen und bietet Einsamkeit, Eitelkeit sowie die Suche nach einem Beweis dafür, noch zu leben, an. Des Weiteren führt die Autorin vor, dass die Liebe und deren Verlauf von den Geschlechtern unterschiedlich wahrgenommen werden kann, sodass sich eine große Liebe für die männliche Seite zur alles beherrschenden, einseitigen Obsession entwickeln kann, worauf der weibliche Part mit Angst, Feindschaft und Distanzierungsbestreben reagiert.
Abschließend behandelt das Buch auch die Suche nach Heimat und das damit verbundene Konfliktpotential innerhalb der Familie. Weiterhin skizziert es den Wunsch der Mutter, der ihr durch die Erkrankung auferlegten Unmündigkeit zu entkommen und ihr Zuhause – mit all den früheren Besitztümern – wiederzufinden. ‚Heimat‘ ist bei Diane Broeckhoven demnach an eine Dinghaftigkeit gekoppelt und ergibt in der Konsequenz ein überschaubares Figurenensemble, welches sich den großen Lebensfragen auf unterhaltsame, sehr leicht zugängliche Art nähert.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen