Der Bruch mit alten Schemata

Die Intellektuellen im Krieg um Jugoslawien haben Respekt verdient

Von Gerhart PickerodtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gerhart Pickerodt

Als vor acht Jahren der Golfkrieg geführt wurde, war die intellektuelle Situation eine andere als heute. Es herrschte ein Klima der erzwungenen Anpassung, der feindseligen Unterstellungen, der Sorge, den falschen Gruppierungen zugerechnet zu werden, der Angst, sich in einer Weise zu äußern, die auf den Sprecher zurückschlagen würde. Wer gegen den Krieg war, mußte gewärtig sein, als Sympathisant Saddam Husseins zu gelten oder als Feind des Staates Israel, wenn nicht gar als Antisemit.

Heute, im Serbien-Kosovo-Krieg, ist das Klima insofern anders geworden, als man in der Regel genauer hinzusehen bereit ist und daher auch zu differenzierteren Urteilen gelangt. Meinungsunterschiede werden zumeist relativ sachlich ausgetragen, und es scheint, als seien es gerade osteuropäische Intellektuelle, die das Spektrum der Auffassungen aufgrund ihrer geschichtlichen Erfahrungen und ihrer Debattierlust in auffälliger Weise zu bereichern imstande sind.

Gewiß, es gibt sie noch, die alten Schemata, die es manchen Konservativen - aber auch ihrem Selbstverständnis nach Linken - erlauben, in nicht allzu großer Heimlichkeit sich darüber zu freuen, wenn die grüne Partei in Deutschland angesichts des Krieges zu zerbrechen droht. Es gibt noch die Theorien von der imperialistischen Weltverschwörung der USA, es gibt noch die Meinung, serbische Greueltaten im Kosovo existierten lediglich in der deutschen "Regierungspropaganda", zumindest solange, wie man sich nicht positiv vom Gegenteil habe überzeugen können. Man mag sich über manche selbstauferlegten Wahrnehmungs- und Denkverbote wundern, die sich präsentieren, als seien sie mit der politischen und literarischen Aufklärung im Bunde, während sie doch zu Tabuisierungen der Wirklichkeit und der Begrifflichkeit ihrer Erfassung neigen.

In der Regel jedoch und insbesondere in den Debatten der großen Zeitungen werden weniger vollmundig schematisierte Meinungen präsentiert (wie in muffigen akademischen Kleinstadt-Zirkeln) als Fragen gestellt, Widersprüche debattiert, Erfahrungen ausgetauscht und insbesondere immer wieder eindringlich auf mittelbar oder unmittelbar gewonnene Wahrnehmungen reflektiert. Der Anlaß verbietet es, sich über das intellektuelle und moralische Niveau dieser Debatten zu freuen: Respekt immerhin wird man den Teilnehmern, die sich seit Wochen beinahe täglich zu Wort melden, nicht versagen können. Die typischen Intellektuellen-Schelten, die bei derartigen Gelegenheiten gern selbstdestruktiv von Intellektuellen vorgebracht werden, sind daher heute gänzlich unangebracht. Dabei fällt auf, daß die Beiträge selten unmittelbar politisch-pragmatisch orientiert sind, viel häufiger hingegen die Grenze wahren, die politisch-moralische, rechtspolitische, sozialtheoretische oder geschichtliche Dimensionen von der Tagespolitik trennen. Es handelt sich daher auch nicht um Äußerungen, die ihr Telos in Resolutionen und Unterschriftenaktionen hätten. Was zählt, ist lediglich Argument und Erfahrung. Wenn beispielsweise ein exilserbischer Autor davon berichtet, wie er als Kind 1941 die erste - deutsche - Bombardierung Belgrads erlebt hat, wie sich 1944 eine weitere Bombardierung (dieses Mal durch die Alliierten ) anschloß und wie er nun die dritte Bombardierung seiner Heimatstadt erleben muß, und wenn dieser Autor dies alles als schmerzlich ihn berührende Erfahrung berichtet, ohne eine der Seiten im heutigen Krieg anzuklagen, so mischt sich beim Leser persönliche Empathie mit der Beunruhigung darüber, daß es im heutigen Jugoslawien offenbar verschiedene Gruppen von Opfern gibt: die Kosovaren albanischer Abstammung und die Zivilbevölkerung der serbischen Städte, die, je länger dieser Krieg dauert, desto vollständiger um ihre Lebensgrundlagen gebracht wird.

Das Beispiel zeigt, wie schwer es fällt, angesichts der verschiedenen Opfergruppen innerhalb eines Staatsgebildes politisch für eine der Seiten Front zu beziehen. Ähnliche Widersprüche wie auf der militär-politischen Ebene tun sich rechtspolitisch auf. Wer möchte entscheiden, ob das Prinzip staatlicher Souveränität und Integrität ein höheres Rechtsgut darstellt oder das Menschenrecht auf persönliche Unversehrtheit und Würde? Debatten darüber finden statt, und sie finden in einer Weise statt, die nur relativ selten als aggressiv zu bezeichnen ist. Man sollte es schätzen und als Hoffnungsschimmer betrachten, daß Intellektuelle heute europaweit und über Europa hinaus derartige Debatten führen, statt sich als ideologische Wortführer oder gar als Repräsentanten einer nationalen bzw. supranationalen Politik mißbrauchen zu lassen. Es zeugt von einem gewachsenen intellektuellen Selbstbewußtsein, wenn Schriftsteller und Wissenschaftler über die Regularien einer künftigen Weltgesellschaft nachdenken, statt darüber zu verzweifeln, daß derartige Zukunftsideen den gegenwärtigen Krieg nicht unmittelbar zu beenden helfen können. Zweifellos aber bilden die intellektuellen Auseinandersetzungen ein Sensibilisierungspotential aus, welches angesichts zunehmender Brutalisierungstendenzen im Krieg und im Zivilbereich so dringend gebraucht wird. Maßstäbe menschlichen Verhaltens, ohnehin äußerst fragil, dürfen nicht ethnischen Säuberungen und Hinrichtungen zum Opfer fallen, jedoch auch nicht den offenbar grenzenlosen Bombenoffensiven der Nato, die ihren Zweck obendrein in einer so eklatanten Weise verfehlen.

In den großen Zeitungen werden die Grenzen zwischen den politischen Seiten und den Feuilletons durchlässig. Man debattiert politisch im Feuilleton, und die politischen Redaktionen laden Philosophen ein zu grundsätzlichen Erörterungen über das Verhältnis von Staatssouveränität und Weltgesellschaft. Dies alles sollte weder über- noch unterschätzt werden. Intellektuelles Engagement kann sehr schnell der Resignation weichen angesichts der Erfolglosigkeit politischer Bemühungen oder deren Verzögerungen. Gleichwohl erscheint es als ein positives Zeichen, daß Schriftsteller nicht nur mit Schriftstellern debattieren und Politiker mit Politikern, sondern die Politik sich von Schriftstellern angesprochen und zu eigenen Reaktionen veranlaßt sieht. Gefragt ist heute Offenheit im Denken und Debattieren, das vorurteilsfreie Suchen nach Möglichkeiten, das Elend der Vertriebenen ebenso zu beenden wie die Bedrohung der serbischen Zivilbevölkerung. Vor allem scheint es notwendig zu sein, über den gegewärtigen Tag perspektivisch hinauszudenken und Handlungsspielräume abzustecken, damit der noch nicht beendete Krieg nicht vom drohenden nächsten (Montenegro) abgelöst wird. Daß Intellektuelle sich in die Politik perspektivisch denkend einmischen, muß zur Selbstverständlichkeit werden.