Japans Gespenster der Vergangenheit
Zur Erstveröffentlichung „Japans Geister“ von Lafcadio Hearn und zu den Neuauflagen von Sei Shônagons „Kopfkissenbuch“ und Murasaki Shikibus „Die Geschichte vom Prinzen Genji“
Von Felix T. Gregor
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseEin Blick auf die moderne Kultur und Gesellschaft Japans erweckt im Auge einer außenstehenden, westlichen Beobachter*in schnell den Eindruck, dass das heutige Japan durch und durch geprägt wird von den Geistern und Gespenstern der eigenen, sowohl kulturellen als auch politischen, Vergangenheit. So führen beispielsweise seit der Nachkriegszeit die Besuche zahlreicher japanischer Premierminister im Tokyoter Yasukuni-Schrein immer wieder zu politischen Protesten, insbesondere in den vormals von Japan okkupierten Ländern wie Korea und China. Ursprünglich zum Gedenken an während und nach der Meiji-Restauration im Jahre 1867/68 gefallene Militärangehörige errichtet, werden im Yasukuni-Schrein ebenso die Seelen zahlreicher Offiziere verehrt, die nach dem verlorenen Zweiten Weltkrieg in den sogenannten „Tokyoter Prozessen“ als Kriegsverbrecher verurteilt wurden. Ihre anhaltende gespenstische Präsenz lässt den Yasukuni-Schrein nicht nur zu einem Wallfahrtsort der japanischen Rechten werden, sondern sie zeigt sich jährlich ebenso als Ausdruck der diffizilen Versöhnungsbemühungen zwischen Japan und seinen ostasiatischen Nachbarn. Aber auch im kulturellen Alltag Japans, abseits aller politischen Heimsuchungen, scheinen die mythischen Gespenster der Vergangenheit allgegenwärtig zu sein. Sei es während des jährlichen „O-bon“-Festes, des buddhistischen Gedenktags für die Verstorbenen, oder in japanischen Videospielen wie in dem zuletzt weltweit sehr erfolgreichen „Yo-kai Watch“, in dem ein junger Held verschiedene Figuren der japanischen Mythenwelt und Folklore einfangen und in Kämpfen mit anderen Geistern antreten lassen kann.
Für Nelly Naumann, die mit Ihrer Studie Die Mythen des alten Japan das Grundlagenwerk in der Auseinandersetzung mit den heute noch nachwirkenden nationalen Ursprungserzählungen vorlegte, sind die Geschichten von Gespenstern und Geistern in Japan stets auch als das Ergebnis historischer Einschnitte und Prozesse zu betrachten, die selbst an der Konstruktion und Ausformulierung der japanischen Mythologie mitgewirkt haben. Sich mit der Geisterwelt Nippons zu beschäftigen, heißt demnach auch, sich explizit und implizit mit dessen Geschichte und historischen Umbrüchen auseinanderzusetzen. Drei kürzlich erschiene Erst- bzw. Neuveröffentlichungen laden genau hierzu ein: Lafcadio Hearns Japans Geister, geschrieben im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert, sowie Sei Shônagons Kopfkissenbuch und Murasaki Shikibus Die Geschichte vom Prinzen Genji, beide entstanden als Teil weiblicher Hofliteratur im 11. Jahrhundert. Alle drei Werke setzen sich sowohl direkt mit den Geistern der japanischen Kultur auseinander als auch indirekt, indem sie selbst aufgrund ihrer eigenen nachwirkenden und anhaltenden Bedeutsamkeit als kulturelle Gespenster gelesen werden können, die fortwährend als exemplarische Beispiele japanischer Kunstfertigkeit heraufbeschworen werden.
1904, im Jahre seines Todes, lebte der griechisch-irische Schriftsteller Lafcadio Hearn bereits mehr als 14 Jahre lang in Japan. Als aufmerksamer, nicht zuletzt aber auch japanophiler Beobachter interessierte er sich in besonderer Weise für die Geschichten des ‚einfachen Volkes‘ und für die persönlichen Erfahrungen und Erinnerungen seiner Zeitgenossen. Gerade hieraus entstanden seine Aufzeichnungen über die Gespenster und Geister des japanischen Alltags, die zugleich zum Ausdruck des populären Volksglaubens seiner Gegenwart werden, in der der Mensch nicht alleine auf der Welt zu leben scheint. Dennoch, und hier liegt eine der interessanten Wendungen bei Hearn, bedeuten seine Geschichten über Geister und Gespenster nicht immer fantastische Berichte von paranormalen Erscheinungen und Beschreibungen gespenstischer Figuren, die das Leben einzelner Japaner*innen durcheinanderbringen – und Hearn zu einem japanischen Grimm werden lassen könnten. Vielmehr sind es seine Beobachtungen der japanischen Kultur und Gesellschaft in den Umbrüchen des ausgehenden 19. Jahrhunderts, die mit der Öffnung des Landes zum Westen einhergingen, die seine Erzählungen und Skizzen als das historische Dokument einer (noch) nicht-westlichen Moderne lesenswert und bedeutsam werden lassen. Hearns Geister stellen in einem Freud‘schen Sinne eher Heimsuchungen einer Vergangenheit dar, die mit der Gegenwart und Zukunft nicht mehr allzu viel zu tun hat. Mit dem Buch Japans Geister werden zum ersten Mal zahlreiche dieser Aufzeichnungen Hearns nun auch auf Deutsch veröffentlicht.
Eine Erzählung wie Ningyô no Haka (Das Puppengrab) muss mit Nelly Naumann als der Bericht einer Zeit gelesen werden, in der klassische, d.h. japanische Gesellschafts- und Familienstrukturen auseinanderbrachen und sich das japanische Volk, konfrontiert mit den neuen Idealen und Werten westlicher Herkunft, neu orientieren musste. In Ningyô no Haka wird die Geschichte einer Drei-Generationen-Familie beschrieben, in der innerhalb kürzester Zeit sowohl der Vater als auch die Mutter und somit die mittlere Generation als Stütze der Gesamtfamilie verstirbt. Übrig bleiben lediglich die Großmutter und drei Kinder, ein Junge und zwei Mädchen. Als neues Oberhaupt der Familie ist es nun die Pflicht des Jungen, ein Puppengrab anzulegen, um die Familie vor einem weiteren Unheil zu bewahren. Denn eine japanische Legende besagt, dass in einem Jahr, in dem zwei Menschen aus derselben Familie sterben, zeitnah auch jemand drittes sterben wird. Eben diesen dritten Todesfall soll das Puppenopfer als ein Stellvertreter verhindern. Doch in Hearns Geschichte vergisst der Junge seine Aufgabe und nur wenige Wochen nach dem letzten Todesfall erkrankt auch er. Während er sich im eigenen Todeskampf befindet, erscheint ihm die Seele der Mutter als ein Geist, der ihn in das Reich der Toten mitnimmt. Aus Trauer über diesen weiteren Verlust verstirbt sodann die Großmutter und übrig bleiben lediglich die beiden Mädchen, die sich ohne die eigene Familie gezwungen sehen, in neue Familien einzuheiraten. Was am Beginn noch existierte, liegt somit am Ende des Textes verändert bzw. zerstört danieder. Nicht nur auf die Erzählung, sondern auch auf das Japan des 19. Jahrhunderts mit seiner Öffnung zum Westen trifft dies zu. Die radikale politische Umgestaltung des Landes gipfelte im Ereignis der sogenannten Meiji-Restauration, die das Ende der militärischen Herrschaft des Shoguns über das Land bedeutete und die Rückkehr der Macht zum japanischen Kaiser bedingte. In der japanischen Gesellschaft wiederum wurde das Konstrukt der Großfamilie, in der mehrere Generationen wie zu Beginn von Ningyô no Haka unter einem Dach zusammenlebten, immer mehr zugunsten der nuklearen Kleinfamilie verdrängt, ein Prozess, der hier bereits angedeutet wird.
Hearns genaue Alltagsbeschreibungen, die in seinen weiteren Erzählungen im vorliegenden Buch z.B. in In der Cholerazeit noch deutlicher zu Geltung kommen, lassen erkennen, dass er nicht nur ein profilierter Chronist seiner Zeit war, sondern sich mit seinem Schreiben ebenso in einer Jahrhunderte alten Tradition der japanischen Literatur befindet, die geprägt ist von den Beobachtungen der kleinen Dinge und Details. Das Kopfkissenbuch der Hofdame Sei Shônagon, geschrieben um das Jahr 1000, gilt als Paradebeispiel weiblicher, japanischer Hofliteratur, die sich vor allem durch solche genauen Beobachtungen, hier des Lebens am japanischen Hof, auszeichnet.
Bereits 1952 wurde dieser Roman in deutscher Übersetzung vom Manesse Verlag im Rahmen seiner „Bibliothek der Weltliteratur“ veröffentlicht. Doch wie bei so vielen anderen literarischen als auch essayistischen Werken, die sich auf die Frage von Alltagskultur beziehen, entschied sich der damalige Übersetzer Watanabe Mamoru dazu, nur einen Teil des Werkes ins Deutsche zu übertragen – mit der Begründung, dass die nicht übersetzten Textstellen für ein nicht-japanisches Lesepublikum nur schwer zu verstehen und zu vermitteln seien. Mit der nun vorliegenden Neuauflage hat man sich endlich dazu entschieden, das komplette Werk zu übersetzen (der Übersetzer ist Michael Stein) und damit vollständig zur Verfügung zu stellen.
Wie bereits angemerkt, interessiert sich das Kopfkissenbuch von Sei Shônagon vor allem für die kleinen Details, Ansichten und Bilder des Lebens am japanischen Hof während der sogenannten Heian-Zeit (794-1185). Als Hofdame unter der Kaiserin Teishi beziehen sich ihre Beschreibungen verstärkt auf die unterschiedlichen Beziehungsgeflechte am Hof, auf die neuesten Gerüchte, die ihr von anderen Hofdamen zugetragen wurden, auf Feste und Feiern oder auf die Bedeutsamkeit bestimmter religiöser bzw. magischer Rituale. Aber auch Auseinandersetzungen mit Fragen der Ästhetik und der Natur als einem Gegenstand der Schönheit und Kontemplation finden sich häufig in Sei Shônagons Texten. So beschreibt sie unter dem Skizzentitel Was rein wirkt Dinge, die für sie diese Kategorie erfüllen: „Töpferware, neue Metallschalen. Binsen, die man zu Tatami flicht. Das durchsichtige Spiegelbild einer Frau, die Wasser in ein Gefäß füllt.“ Und zum Punkt „Strände“ hält sie fest: „Udohama, Nagahama, Fukiagenohama, Uchiidenohama, Moroyosenohama. Der Chisato-Strand wird gewiss sehr lang sein.“
Für den japanischen Literaturwissenschaftler Shuichi Kato liegt die Besonderheit des Kopfkissenbuchs und anderer Frauen-Tagebücher, die im 10. und 11. Jahrhundert in einer Vielzahl endstanden, gerade darin, dass sie, da in ihnen das alltägliche Leben ihrer Autorinnen zum Mittelpunkt der literarischen Beschreibung und Erzählung erhoben wird, weder zu den fiktiven Geschichten, noch zu den historischen Erzählungen oder Chroniken der Zeit gezählt werden können, sondern eine eigene Kategorie der Literatur begründen. Die Privatheit eines Tagebuchs wie im Falle des Kopfkissenbuchs führt zumal dazu, dass über die jeweilige Autorin des Textes meist nicht viel bekannt ist. Wer Sei Shônagon war, was ihre Einstellung und Haltung zu vielen Dingen gewesen ist, erfährt das Lesepublikum fast ausschließlich über die in ihrem Tagebuch enthaltenen Texte. Dass diese Innenansichten, die zugleich Außenansichten des japanischen Hoflebens und damit wichtiges Dokument über die japanische Heian-Zeit darstellen, mitunter sehr subjektiv und für manche der in Sei Shônagons Aufzeichnungen erwähnten bzw. beschriebenen Menschen unangenehm waren, erkennt die Autorin am Ende ihres Kopfkissenbuchs selbst, wenn sie schreibt: „Es mag hier und da vorkommen, dass ich mir Ausdrucksweisen geleistet habe, die bedauerlicherweise irgendjemanden vor den Kopf stoßen könnten. Ich wollte diese Aufzeichnungen nach Möglichkeiten verborgen halten, doch entgegen meinen Absichten sind sie nun allgemein bekannt geworden.“ Wie viel man heute noch dank des Kopfkissenbuchs über das japanische Hofleben im 11. Jahrhundert erfahren kann, umso weniger wird darin berichtet, wie zu gleicher Zeit die Lebensbedingungen der Mehrheit der japanischen Bevölkerung waren, die ja nicht am kaiserlichen Hof lebte und arbeitete und daher selbst wenig Raum für die ästhetisch-philosophischen Überlegungen von Sei Shônagon besaß. Über sie erfährt das Lesepublikum des Kopfkissenbuchs im Gegensatz zu den Alltagsbeobachtungen Lafcadio Hearns im ausgehenden 19. Jahrhundert relativ wenig.
Es ist aber trotzdem diese subjektive Privatheit, so Shuichi Kato weiter, die die Werke der schreibenden Frauen in der Heian-Zeit deutlich von der ‚offiziellen‘ und das heißt in besonderem Maße auch öffentlichen Literatur der männlichen Autoren unterscheidet. Dass es letztlich Frauen waren, die damit entscheidend zur Fortentwicklung der japanischen Literatur in der uns heute bekannten Form beitrugen, ist daran zu erkennen, dass Autor*innen wie Sei Shônagon im Gegensatz zu den schreibenden Männern am Hof in der Heian-Zeit, die ihre Texte ausschließlich in Chinesisch verfassten, bereits in japanischer Silbenschrift schrieben und damit zur Weiterentwicklung des Japanischen und seiner genuinen Schriftformen beitrugen. Es sind ihre Werke, die heute noch immer als die großen Referenzen eines allgemein-historischen Kulturgedächtnisses in Japan aufgerufen werden – und sei es nur in der abgewandelten Form einer Werbebotschaft für Frittiertes, wie Michael Stein in seinem Nachwort zum Kopfkissenbuch konstatiert.
Wie wichtig die Rolle von schreibenden Frauen in der Heian-Zeit auch für die Entwicklung des Romans als einer modernen literarischen Form war, wird an einer Zeitgenoss*in von Sei Shônagon in besonderer, wenn nicht gar einzigartiger Weise deutlich: Murasaki Shikibu, ebenfalls eine Hofdame, jedoch im Dienste der späteren Kaiserin Shôshi. Murasaki Shikibu schuf mit Die Geschichte vom Prinzen Genji jene Erzählung, die oft als der erste Roman der Weltliteratur bezeichnet wird. Nachdem dieser Text mehrere Jahre nach seinem Erscheinen, ebenfalls in der „Manesse Bibliothek der Weltliteratur“, vergriffen gewesen war, bemühte sich auch hier der Verlag um eine Neuauflage, die den Text entgegen anderen, weiterhin auf Deutsch erhältlichen Fassungen endlich wieder in seiner direkten Übersetzung aus dem Altjapanischen verfügbar macht (bei den Übersetzungen, die beispielsweise im Insel-Verlag und anderswo erhältlich sind, handelt es sich um Übersetzungen der englischsprachigen Fassung).
Wie schon Sei Shônagon, so wurde auch Murasaki Shikibu, deren richtiger Name nicht bekannt ist, durch ihre Tagebuchaufzeichnungen im Murasaki Shikibu nikki (Das Tagebuch der Murasaki Shikibu) bereits zu Lebzeiten und damit parallel zu Sei Shônagon als Autorin von sehr genauen Beobachtungen des Hoflebens berühmt. Doch der Text, der ihren eigentlichen, d.h. weitreichenden Ruhm begründet hat – und dies auch heute noch immer tut – ist Die Geschichte vom Prinzen Genji. In diesem nicht nur vom Umfang her gewaltigen Roman erzählt Murasaki Shikibu in 54 Kapiteln, wobei deren konkrete Autorschaft bis heute nicht in vollem Umfang geklärt ist, die Lebensgeschichte von Hikaru Genji, dem Sohn eines alternden Kaisers und seiner Konkubine. Der Roman beschreibt den Aufstieg Genjis am kaiserlichen Hof, sein Exil, und sodann die Rückkehr an den Hof, sowie allerlei Liebesbeziehungen zwischen dem Protagonisten und einer Schar von weiblichen Figuren, angefangen bei seiner Stiefmutter, der Dame Fujitsubo. Interessant für die Gesamtheit des Romans ist hier, dass die Abenteuer von Hikaru Genji vor allem in episodischer Form erzählt werden, die, so Shuichi Kato in seinen Überlegungen zum Roman, eher wie zusammengefasste Kurzgeschichten denn als konzise sich fortsetzender und aufbauender Großroman wirken. Gerade hierin wird die Verwandtschaft zu Sei Shônagons Kopfkissenbuch und Murasaki Shikibus eigenem Tagebuch deutlich. Erst in den letzten 14 Kapiteln, die die Ereignisse nach dem Tod Genjis erzählen und damit wie ein zweiter Roman erscheinen, strafft sich die Erzählweise des Romans in deutlicher Weise. Somit ist es allein die Figur Genjis, seine Entwicklung und Erzählperspektive, die wie ein roter Faden den Roman zusammenhält. „Die Erzählstruktur des Genji monogatari“, so schränkt Kato in Hinblick auf die Komplexität des Romans für eine heutige Leserschaft dabei jedoch ein, „besteht aus anscheinend objektiven Wiedergaben der Geschichten, der Worte, Gedichte und Gedanken der Protagonisten. Diese Bestandteile sind aber nicht klar voneinander getrennt, und das Subjekt wechselt manchmal mitten im Satz, ohne daß diese Veränderung kenntlich gemacht wäre. Der Leser muß dann den Bezug selber herstellen.“ Für ihn stehe deshalb ein anderer Aspekt im Vordergrund des Romans, der auch dessen Bedeutung für die (japanische) Literaturgeschichte ausmache: die Beschreibung der Zeit, ihres Flusses und ihrer Vergänglichkeit. Unter diesem Blickwinkel betrachtet, erscheinen so auch die gespenstischen Momente der Geschichte vom Prinzen Genji, ohne diese dabei aber zu einer dezidierten Gespenstererzählung werden zu lassen.
Stetig zeigt der Roman die Bedeutung vergangener Ereignisse für die Entwicklungen der Gegenwart auf. Und immer wieder sind es in der Geschichte vom Prinzen Genji die Toten, die erheblichen Einfluss auf die Beziehungen der Lebenden nehmen. So erscheint die Liebe bei Murasaki Shikibu als ein gespenstisches Phänomen, das ohne den Einfluss der Toten nicht möglich ist. Hier lässt sich die Brücke zu Lafcadio Hearns Japans Geister schlagen, wird doch auch dort die Liebe der Verstorbenen oft zur Ursache für den schmerzvollen Tod eines Menschen (wie in der Geschichte Ningyô no haka) auf der einen Seite oder zum Grund für das Weiterleben bzw. Überleben eines Kindes, das gerade durch die Liebe seiner verstorbenen Mutter genährt wurde, auf der anderen Seite (In der Cholerazeit). Die gespenstische Heimsuchung der Vergangenheit scheint folglich nicht nur ein virulentes Phänomen der japanischen Moderne, sondern auch der japanischen Literatur allgemein zu sein. Alle drei hier vorgestellten Bücher eröffnen durch ihre Neu- bzw. Wiederentdeckung einen Blick auf ein Land, das sich immer wieder mit den eigenen Geistern und Gespenstern konfrontiert sieht.
Am Ende soll die Aufmerksamkeit noch kurz auf eine besondere Gemeinsamkeit der hier besprochenen Bände gerichtet werden, die diese deutlich vom Gros vieler Bücher abhebt. Bei allen drei Titeln handelt es sich um bibliophile Ausgaben, die durch die Buchgestaltung bereits versuchen, der Bedeutung des jeweiligen Werkes einen angemessenen, haptischen Rahmen zu schaffen.
Im Falle von Japans Geister mag dies im Vergleich am wenigsten überraschen, erscheint das Buch doch als Teil der „Anderen Bibliothek“ im Eichborn Verlag (die Originalausgabe ist mittlerweile vergriffen, ein Extradruck wurde aber bereits beschafft). Neben der beinahe obligatorischen Fadenheftung und dem enthaltenen Lesebändchen gibt es 17 Holzschnitte der Buchgestalterin Franziska Neubert, die in dem auf japanisch anmutendem Büttenpapier gedruckten Band enthalten sind. Punktuell wird so zu den Erzählungen Hearns ein optischer Kontrast gesetzt, der immer wieder auf Momente der Veränderung und Adaption, hier im konkreten Fall der japanischen Ästhetik von Holzschnitten, verweist und damit das Thema der Veränderung, Transformation und Umbrüche in den kurzen Geschichten aufgreift. Die Lektüre von Hearns Geschichten wird somit auch zu einer visuellen Lesereise.
Murasaki Shikibus Geschichte vom Prinzen Genji wird wiederum vom Manesse Verlag in einer hervorragend gestalteten Schuber-Ausgabe dargeboten. Eingebunden in japanischem Leinen und mit Goldprägung versehen, ruft die Neuauflage Erinnerungen an eine Zeit wach, in der auch das Buch selbst, unabhängig von seinem Inhalt, noch zu einem Gegenstand der Kunst werden konnte.
Die aber sicherlich eindrucksvollste Buchgestaltung stellt Sei Shônagons Kopfkissenbuch dar. Gedruckt im quadratischen Format und mit einem dicken Einband aus Feinleinen erscheint das Buch an sich wie ein Kopfkissen, auf das man sich niederlegen möchte. Dieser gestalterische Anspruch setzt sich auch im Inneren des Bandes fort. Die Einträge Sei Shônagons sind auf den einzelnen Seiten verschiedentlich angeordnet, ganz so wie in einem Tagebuch, dem nachträglich noch weitere Anmerkungen, Gedanken und Beobachtungen hinzugefügt worden sind. Hierbei stechen besonders der Zweifarbdruck und das Satinpapier des Buches heraus, welche selbiges zu einem Objekt werden lassen, das bestimmt auch Sei Shônagons Interesse gefunden hätte.
Hervorzuheben sind in Lafcadio Hearns Japans Geister und in Sei Shônagons Kopfkissenbuch zuletzt noch die bereitgestellten Anmerkungen der jeweiligen Übersetzer*innen, die nützlich und hilfreich zahlreiche Kontexte zu den Texten erläutern, die für ein nicht-japanischsprachiges Publikum sehr wahrscheinlich unbekannt sind. Auf diese Weise wird die Lektüre der drei Bücher zugleich zu einer Einführung und Erkundungsreise in die Kultur Japans im 11. und respektive 19. Jahrhundert. Mit diesen Geistern und Gespenstern der japanischen Vergangenheit kann man wohl mehr als gut leben.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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