Die Autobiographie ist tot, es lebe die Autobiographie!

"Autobiographisches Schreiben nach dem Ende der Autobiographie" von Almut Finck

Von Eva KormannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Eva Kormann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Die Autobiographie ist tot - es lebe die Autobiographie!" Mit diesem Satz läßt sich die derzeitige Situation der Autobiographik und der Autobiographie-Forschung skizzieren. Denn wer wie Almut Finck in "Autobiographisches Schreiben nach dem Ende der Autobiographie" nach den gegenwärtigen Möglichkeiten des autobiographischen Schreibens fragt, sieht sich auf eine paradoxe Lage verwiesen: Eigentlich dürfte es keine Autobiographien mehr geben. Darin sind sich die Vertreter der klassischen Autobiographie-Theorie, für die alles nach Goethe (oder Mill, je nach Herkunft der Theoretiker) nur noch Produkt einer Verfallszeit ist, seltsam einig mit den Verfechtern eines linguistic turn, für die die Gattung Autobiographie verschwunden ist, zusammen mit dem Glauben an das autonome Subjekt und an eine vortextuelle Wirklichkeit.

Merkwürdigerweise aber tummelt sich gerade in dieser Zeit der totgesagten Autobiographie diese Textsorte quicklebendig auf dem Literaturmarkt und ist bei Literaturwissenschaftlern ausgesprochen en vogue. Finck hat diese Situation genau analysiert und eine fast übermenschliche Systematisierungsleistung der theoretischen Positionen von Herder bis heute vollbracht. Das Lieblingsspiel der Rezensenten ("Was eigentlich lesen Doktorand(inn)en? Warum sind die Vertreter einer traditionellen Autobiographietheorie Shumaker, Neumann, Müller, Olney und Weintraub nicht einmal erwähnt?") verbietet sich angesichts der Veröffentlichungsflut zur Autobiographietheorie - oder kann sich gegen alle richten, die derzeit zu diesem Thema nicht nur lesen, sondern auch veröffentlichen wollen.

Almut Fincks Konstanzer Dissertation untersucht "Kindheitsmuster" von Christa Wolf und "The Women Warrior" von Maxine Hong Kingston und damit das Schreiben von Gruppen, deren Texte die Autobiographie-Theorie lange Zeit gar nicht beachtet hat, da für sie die Gattung eng verbunden war mit der Selbstdarstellung eines autonomen Subjekts um 1800, und das war bürgerlich, männlich und von europäischer Herkunft. Finck geht von einer sozio-kulturellen Konstruktion von Geschlechterdifferenz und "Rassenzugehörigkeit" aus und davon, daß sich hinter diesen Zuschreibungen keine prätextuelle Gruppenidentität verbergen kann. Sie vertritt dabei überzeugend und vehement die These, daß Textualität und Referentialität vereinbar sind. Sie will den Kontext der Texte, eine "Wirklichkeit", nie aus den Augen verlieren, ist sich aber stets bewußt, daß "kein Bezug auf ein Moment der sogenannten Lebenswelt möglich ist, der nicht immer auch an deren Formierung beteiligt wäre." Wolfs und Kingstons Texte interessieren sie konsequenterweise als Musterexemplare eines autobiographischen Verfahrens, "welches den textuellen Konstituierungsprozeß autobiographischer Referentialität zum integralen Bestandteil der autobiographischen Schrift macht, welches, mit anderen Worten, die sprachliche Verfaßtheit des Subjekts und seiner Geschichte selbstreflexiv inszeniert".

An dieser Stelle wird allerdings das Fehlen zumindest zweier autobiographietheoretischer Untersuchungen der letzten 10 Jahre problematisch: Denn Oliver Sill analysiert in "Zerbrochene Spiegel" (1991) unter anderem ebenfalls Wolfs "Kindheitsmuster" und kommt zu dezidiert anderen Ergebnissen als Finck und Groppes These vom "Ich am Ende des Schreibens" (1990), von der Prozessualität der autobiographischen Selbstkonstruktion, nimmt einiges von Fincks subjekttheoretischer Position vorweg. Nur argumentiert Groppe nicht aus dezidiert konstruktivistischer Perspektive. Und die konstruktivistischen Strömungen liegen Finck deutlich näher. So sind für sie die entscheidenden Impulse der Autobiographietheorie nach Roy Pascals "Design and Truth in Autobiography" von 1960 nur noch von dieser Seite ausgegangen. Und bei der Verknüpfung von Textualität und Referentialität steht bei ihr die textuelle Formung der Lebenswelt im Vordergrund und weniger der faktische Einfluß, den auch eine textuell geprägte Lebenswelt auf den Einzelnen ausübt.

Trotz dieser Einwände ist Fincks "Autobiographisches Schreiben nach dem Ende der Autobiographie" ein Glanzstück von einer Dissertation, ein Buch, das kennen muß, wer sich mit Autobiographie-Theorie, Postmodernediskurs oder den Gender Studies befaßt. Und während sich die Fronten der Radikalkonstruktivisten, denen als Wiedergänger des Bischofs von Cloyne alles zur Simulation gerät, und der Verfechter einer binären Referentialitätsthese, die die Augen verschließen vor der Nichthintergehbarkeit von Konstruktionen, während sich diese Fronten derzeit unversöhnlich gegenüberstehen, kann Fincks Versuch, die Konzepte Textualität und Referentialität kompatibel zu machen, vielleicht ein Anfang sein für Bewegung in den erstarrten Fronten und ein Auftakt für - endlich - fruchtbare Diskussionen.

Titelbild

Almut Finck: Autobiographisches Schreiben nach dem Ende der Autobiographie.
Erich Schmidt Verlag, Berlin 1999.
220 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-10: 3503049193

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