Ohne Spazieren wäre ich tot
Fritz Lichtenhahn liest Robert Walser
Von Viktor Schlawenz
Besprochene Bücher / Literaturhinweise"Spazieren muß ich unbedingt, damit ich mich belebe und die Verbindung mit der Welt aufrecht erhalte, ohne deren Empfinden ich weder einen halben Buchstaben mehr schreiben noch ein Gedicht in Vers oder Prosa hervorbringen könnte. Ohne Spazieren wäre ich tot." Der Schriftsteller ist als Spaziergänger bekannt, und man hält ihn für einen gut betuchten Privatier oder Tagedieb, der nicht wie andere Leute einer Brotarbeit nachgehen muss, sondern beständig dem Müßiggang frönen darf. Ein Mensch also, der keinerlei Verpflichtungen zu haben scheint und daher vermögend sein muss. Der "Homme des lettres" aber verfügt nur über ein "sehr fragwürdiges Vermögen", er ist im Gegenteil "voll behangen von jeder Art Armut", er hat nichts zu versteuern und ist auf Almosen angewiesen.
Nun gibt es gütige Gönner und freundliche Gönnerinnen, die ihn hier und da zum Essen einladen. "Frau Aebi empfing mich aufs Liebenswürdigste", heißt es, doch hat die freundliche Dame die Eigenschaft, den Schriftsteller dadurch zu erschrecken, dass sie ihn zu stopfen beginnt wie eine Weihnachtsgans. Ähnlich der Hexe im Märchen nötigt sie ihn, immer noch mehr zu essen. Sie macht den armen Poeten glauben, sie wolle ihn mästen und seinen Tod herbeiführen. Kein Wunder, dass ihre Einladung zum veritablen Alptraum gerät.
Wer den Schauspieler Fritz Lichtenhahn (geboren 1932) lesen hört, wird seinen oberdeutschen Singsang nicht mehr vergessen können und für immer mit Robert Walsers innerer Stimme verbinden. Lichtenhahn intoniert den sanften, unterschwellig aggressiven, heiter-melancholischen Wahnwitz dieser Spaziergang-Geschichten auf höchst eindrucksvolle Weise. Bei ihm ersteht aus den walserschen Prosa-Vignetten ein Gesellschaftskritiker, der die Hoffahrt seiner Mitmenschen bitter registriert, der zugleich Scham empfindet über die eigene soziale Existenz, die so wenig anerkannt ist in der geschäftigen Welt. "Was ich sah, war ebenso arm wie groß, ebenso klein wie bedeutend, ebenso reizend wie bescheiden und ebenso gut wie warm und lieblich." In dieser Spannung der Wahrnehmung bewegt sich Walsers Spaziergänger, kongenial intoniert von Fritz Lichtenhahn.
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