Bekenntnis zum "anderen" Deutschland

Anna Seghers (1900 - 1983) war eine originäre erzählerische Begabung

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zu Beginn ihrer Schriftstellerkarriere nannte sie sich einfach Seghers, ohne Vornamen, nach einem flämischen Künstler der Rembrandt-Zeit. Sie wollte hinter dem reinen Namen verschwinden und nicht zeigen, ob der Autor männlich oder weiblich ist. Ihre Romane "Das siebte Kreuz" (1942), "Transit" (1944) und "Die Toten bleiben jung" (1949), teilweise noch in Mexiko entstanden und in Exilverlagen wie El Libro Libre und Querido erschienen, gelten als Meisterwerke der deutschen Exilliteratur. Sie selber galt als Nestorin der DDR-Literatur, auch wenn ihr, nach den Erfahrungen des Exils, kein Werk von gleicher Intensität mehr gelingen wollte.

"Das siebte Kreuz", der "Roman aus Hitlerdeutschland", thematisiert die Flucht des Mechanikers Georg Heisler aus dem Konzentrationslager Westhofen am Rhein. Mit Heisler sind sechs weitere Häftlinge entkommen, die jedoch rasch wieder aufgegriffen werden oder auf der Flucht zu Tode kommen. Um die übrigen Insassen abzuschrecken, lässt der Kommandant sieben Kreuze auf dem "Tanzplatz" errichten. Das siebte Kreuz jedoch, das von Georg Heisler, bleibt leer, es wird - gegen den Willen des Kommandanten - zum Zeichen für die, die noch hoffen dürfen, dem Terror zu entkommen. Marcel Reich-Ranicki schildert diesen Roman als Elegie.

"Transit" schildert die Nöte der Exilierten, ihre zeitweilige Internierung, ihre Duldung in unwürdigen Unterkünften, die Angst vor der Staatenlosigkeit, die Jagd nach gültigen Pässen und Aufenthaltsgenehmigungen, das Leben als Fluchtweg und Pfad in die Freiheit. Der Überlebenskampf macht ihren Roman "Transit" gerade heute, im Zeitalter globaler Migration und Mobilität, zu einem aktuellen Parameter moderner Welterfahrung. In "Der Ausflug der toten Mädchen und andere Erzählungen" thematisierte sie ihren jüdischen Hintergrund und verarbeitete sie den Tod ihrer Mutter, die bereits in den dreißiger Jahren ein Opfer des Holocaust geworden war.

Eine quasi-realistische, mimetisch wirkende Schnitt- und Montagetechnik charakterisiert einen Teil ihres Werkes, es umfasst insgesamt neun Romane und über sechzig Erzählungen. Seghers bewunderte John Dos Passos, ihre Figuren wirken nicht selten holzschnittartig herb und überzeichnet, was der Verfilmung ihrer Stoffe entgegen kam. 1944 verfilmte der Exil-Österreicher Fred Zinnemann "Das siebte Kreuz" mit Spencer Tracey in der Hauptrolle.

1928 trat sie in die Kommunistische Partei Deutschlands ein, in den dreißiger und noch in den vierziger Jahren war sie eine überzeugte Anhängerin der Volksfront. Ende der dreißiger Jahre führte Seghers einen Briefwechsel mit Georg Lukács über die Ästhetik des Realismus. "Bewusstmachung der Wirklichkeit zum Zwecke ihrer Veränderung" war ein Ziel ihres künstlerischen Schaffens. Doch in den vierziger Jahren war nicht mehr zu verheimlichen, was der Stalinismus real bedeutet hat. 1948 schrieb sie an Lukács: "Ich habe das Gefühl, ich bin in die Eiszeit geraten, so kalt kommt mir alles vor. Nicht weil ich nicht mehr in den Tropen bin, sondern weil viele Sachen ganz beklemmend und ganz unwahrscheinlich frostig für mich sind, ob es um Arbeit, um Freundschaft, um politische, um menschliche Sachen geht."

In ihren Romanen "Die Entscheidung" (1959) und "Das Vertrauen" (1968) gestaltete Anna Seghers die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen in der DDR; eine Erzählung, "Der gerechte Ritter", wird als Reflex auf die Schauprozesse gegen Walter Janka und Wolfgang Harich gelesen. Von ihr in Selbstzensur nicht publiziert, erschien der schmale Text posthum 1989. Der Schauprozess 1957 gegen Walter Janka, den Leiter des Aufbau Verlages, muss sie sehr belastet haben, aber es gelang ihr nicht, für Janka auszusagen, zumal ihr Mann, László Radványi, Janka belastet hatte. Ihre Rolle in diesem Prozess - unter den Zuhörern, aber nicht im Zeugenstand - dokumentiert eines der Grundprobleme des Künstlers im 20. Jahrhundert: den Konflikt zwischen dem persönlichen Gewissen und der Loyalität zu einer Idee und einem Staat. "Sie hat einmal geschwiegen, wo sie hätte sprechen sollen", urteilte selbst Stephan Hermlin.

Im Kalten Krieg stand sie vorbehaltslos auf der Seite der Warschauer Pakt-Staaten, selbst noch 1953, bei der Niederschlagung der Unruhen in Ost-Berlin, und 1956, bei der blutigen Beendigung des Volksaufstandes in Ungarn, 1961, nach dem Bau der Mauer, und 1968, bei der gewaltsamen Beendigung des Prager Frühlings. Ihr stummes Einverständnis machte sie im Westen suspekt, während sie in der DDR mit Auszeichnungen überhäuft wurde. Gern wäre sie eine gesamtdeutsche Schriftstellerin gewesen, aber es fehlte ihr wohl der Mut, gegen Missstände im eigenen Land die Stimme zu erheben. Erst die nachgelassene Erzählung "Der gerechte Richter" erzählt von dem Impuls, den auch sie gespürt haben muss, in den Schauprozessen Widerstand zu zeigen. So wurde sie, im Vergleich zu anderen Autoren wie Jurek Becker, Heiner Müller oder Christa Wolf, im Westen weniger gelesen, war dafür im Osten Deutschlands eine Autorität, mit allen denkbaren Ehrungen (einschließlich dem Staatsbegräbnis erster Klasse) versehen. Besonders glücklich war sie über den - damals noch für Autoren aus Hessen vorbehaltenen - Georg-Büchner-Preis (1947) und die Ehrenbürgerschaft der Stadt Mainz (1981).

Sie war eine entschieden politische Frau, eine "antifaschistische Ikone" (Günter Scabowski), doch ihre beiden Kinder Ruth und Peter (Pierre) Radványi schildern sie als "ganz normale Mutter", "sehr herzlich", intuitiv und feinfühlig, dabei diszipliniert. Sie galt als moralische Autorin und bezog sich gern auf die Ideen der französischen Revolution - Liberté, Egalité, Fraternité - und sie legte Wert auf die Freizügigkeit und Großzügigkeit, die sie selber als Kind in Mainz erfahren hatte.

Selbst in den dürren Worten eine biographischen Lexikons liest sich ihr Leben spannend und eindrucksvoll. Geboren wurde Anna Seghers als Tochter eines nicht unvermögenden Kunst- und Antiquitätenhändlers. Nach dem Abitur 1919 studierte sie Philologie, Geschichte, ostasiatische Kunstgeschichte und Sinologie in Heidelberg und Köln. 1924 promovierte sie in Köln zum Dr. phil. über "Jude und Judentum im Werke Rembrandts". Durch Heirat mit László Radványi, damals Ökonom in der Handelsvertretung der UdSSR in Berlin, wurde sie ungarische Staatsbürgerin. Sie trat aus der israelitischen Religionsgemeinschaft aus, fing an zu schreiben und erhielt für ihre erste Erzählung "Aufstand der Fischer von St. Barbara" 1928 den Kleist-Preis. 1933 kam sie nach dem Reichstagsbrand kurz in Gestapo-Haft, wurde dann unter Polizeiaufsicht gestellt. Sie emigrierte über Zürich nach Paris, wo sie zusammen mit Jan Petersen, Oskar Maria Graf und Wieland Herzfelde die Zeitschrift "Neue Deutsche Blätter" herausgab. Über Marseille gelang ihr 1941 die Flucht nach Mexiko, bis 1950 war sie mexikanische Staatsbürgerin und zeitweilig Mitherausgeberin der Zeitschrift "Freies Deutschland". Im April 1947 kehrte sie via Stockholm nach Deutschland zurück. 1947 wurde sie SED-Mitglied. Sie reiste 1948 mit der ersten deutschen Schriftsteller-Delegation in die UdSSR, wurde 1950 Staatsbürgerin der DDR, nahm als Mitglied des Präsidiums des Weltfriedensrates an zahlreichen Friedenskongressen teil, erhielt 1951 den Stalin-Friedenspreis, 1961 die Johannes-R.-Becher-Medaille und war von 1978 bis 1983 Ehrenpräsidentin des Schriftstellerverbandes der DDR.

Titelbild

Sonja Hilzinger: Anna Seghers.
Reclam Verlag, Stuttgart 2000.
220 Seiten, 6,10 EUR.
ISBN-10: 3150176239

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Titelbild

Christiane Zehl Romero: Anna Seghers. Eine Biographie 1900-1947.
Aufbau Verlag, Berlin 2000.
600 Seiten, 34,80 EUR.
ISBN-10: 3351034989

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Titelbild

Helmut Müller-Enbergs / Jan Wielgohs / Dieter Hoffmann (Hg.): Wer war wer in der DDR? Ein biographisches Lexikon. Unter Mitarbeit von Olaf W. Reimann und Bernd- Rainer Barth.
Ch. Links Verlag, Berlin 2000.
1036 Seiten, 34,80 EUR.
ISBN-10: 3861532018

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