Heinrich Böll als Moralist - revisited

Der amerikanische Germanist Lawrence F. Glatz über Verbrechen und Gewalt in Heinrich Bölls Prosawerk

Von Joachim LinderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Joachim Linder

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Heinrich Böll goutierte es bekanntlich nicht, als "Moralist" bezeichnet zu werden. Er sah darin keinen Ehrentitel, sondern eine Etikettierung, die ihm von professionellen Lesern zugedacht wurde, die zwar sein gesellschaftliches und politisches Engagement als gut (oder gut gemeint) empfanden, seine Texte aber als risikolose gehobene Unterhaltungsliteratur abwerten wollten, ohne dies in aller Deutlichkeit aussprechen zu müssen. Als Schriftsteller fühlte Böll sich gleichzeitig unterschätzt und ausgegrenzt. Von solchen Bedenken bleibt die hier anzuzeigende Studie unberührt; ihr Autor resümiert nach gut 270 Seiten, daß die "Charakterisierung Moralist für Heinrich Böll mit Recht angewandt" werde. Aus der Zuschreibung im Bereich der literaturbezogenen Diskurse wird so eine Kategorie, die Autor und Œuvre verbinden und sich über die Darstellungen, Wahrnehmungen und Diskussionen von Gewalt und Kriminalität konstituieren soll. Die Beweislast wird gleichsam umgekehrt, das Œuvre soll die Etikettierung und die Zuweisung einer öffentlichen Rolle an den Schriftsteller rechtfertigen.

Vorweg sei angemerkt, dass die Präsentation der Studie Geduld und Nachsicht ihrer Leser gehörig in Anspruch nimmt. Bei der Produktion des Buches hat man den (zugegeben großen) Deutschkenntnissen des Autors derart vertraut, dass man auf eine Korrekturlektüre verzichten zu können glaubte. Nur so ist zu erklären, dass zahlreiche Falschschreibungen, Anglizismen sowie ungrammatische und schiefe Konstruktionen stehen geblieben sind und den Lesefluss auf ärgerliche Weise stören, obwohl sie mit wenig Aufwand hätten behoben werden können.

Es ist durchaus vielversprechend, das gesamte Prosawerk Bölls im Hinblick auf die Darstellungen und Diskussionen von Gewalt, Verbrechen und Justiz zu untersuchen; dass die kulturelle Distanz zwischen Autor und Forschungsgegenstand den Blick schärfen kann, kommt hinzu. Und in der Tat fördert die immense Leseleistung eine beeindruckende Materialfülle zu Tage. Das Material der Studie ist chronologisch angeordnet und umfasst neben Primärtexten zahlreiche Beispiele der literaturkritischen und literaturwissenschaftlichen Diskussion über Böll. Doch leider verzichtet der Autor fast vollständig auf systematische und systematisierende Reflexionen; die Leitbegriffe der Studie - Moralist, Moral, aber auch Verbrechen, Gewalt, Schuld usw. - bleiben undefiniert und dem Alltagsverständnis verhaftet, so dass angesichts zahlreicher Textreferate und kurzer Kommentare die Zusammenhänge im Werk und mit den möglichen außerliterarischen Kontexten verloren gehen. Die Erschließung von Perspektiven, unter denen das Material thematisch zu ordnen wäre, bleibt dem Leser überlassen, der in dieser Hinsicht gut beraten ist, gleich zu Bölls Texten zu greifen: Sie begreifen Verbrechen in der Regel nicht als Manifestationen persönlicher Eigenschaften, sondern als Ergebnisse von Wahrnehmungs- und Zuschreibungsprozessen, an denen Justiz, Politik und Öffentlichkeit beteiligt sind. Die Konzeptionen von Verbrechermenschen und Übeltätern werden nicht als Erklärungen der Entstehung von Kriminalität verstanden, sie dienen vielmehr der Stabilisierung von Machtverhältnissen. Schuld ist dem individuellen Handeln nicht inhärent, sondern entsteht im Auge des Betrachters. Als Auseinandersetzungen mit deutscher Vergangenheit und Gegenwart bestehen Bölls Texte darauf, dass die Vorstellungen von Verbrechen und Schuld wandelbar sind; Bölls Leser erfahren auch, dass Erinnerung, die auf sprachliche Vergegenwärtigung von Vergangenheit angewiesen ist, stets als Arbeit mit und an der Sprache von Verbrechern und Mördern verstanden werden kann: diese Erfahrung liegt vor allem seinen Darstellungen der Strafjustiz zugrunde und verweist noch einmal auf die Wandelbarkeit und Unzuverlässigkeit politischer und alltäglicher Verbrechensvorstellungen.

Charakterisiert man die Verbrechens- und Gewaltdarstellungen in Bölls Œuvre so, dann wird auch sichtbar, daß es einen (näher zu bestimmenden) Ort in der justiz- und sprachkritischen Tradition der Moderne hat, deren Positionen es im Lichte der Erfahrungen der Nazi-Zeit reformuliert. Gleichzeitig könnten Anschlüsse an die sehr lebendigen Diskussionen zur Strafrechts- und Justizreform sowie in der Kriminologie der Bundesrepublik in den fünfziger und vor allem sechziger Jahren gezeigt werden.

Derartigen Reflexionen, die sich schon der exemplarischen Lektüre aufdrängen, verschließt sich Glatz' Studie. Man wird von einer literarhistorischen Dissertation nicht verlangen, dass sie alle diskursiven Spuren, die in ihr Blickfeld gelangen, auch verfolgt. Doch Glatz vermeidet dies selbst dort, wo sein Generalthema - die Stilisierung des öffentlichkeitswirksamen Moralisten auf der Basis von Gewalt- und Schuldkonzeptionen - unmittelbar betroffen ist. So wirkt es einigermaßen irritierend, dass er Helmut Schelskys Charakterisierung Bölls als 'Kardinal einer neuen Heilsreligion' zwar zitiert, aber aus Schelskys wichtigem Text ("Die Arbeit tun die anderen. Klassenkampf und Priesterherrschaft der Intellektuellen", 1975 u. ö.) keinerlei Schlüsse zieht, obwohl er und die Diskussionen, die er in Gang setzte, über die Auseinandersetzungen zum Moralisten Böll hervorragend informieren könnten. (Die Widerlegung der ziemlich unsäglichen Vorwürfe von Lothar Ulsamer in "Zeitgenössische deutsche Schriftsteller als Wegbereiter für Anarchismus und Gewalt", 1987, nimmt demgegenüber unverständlich breiten Raum ein.) Glatz sammelt die Stellen, die Böll als Moralisten etikettieren, doch er ordnet sie nicht; der literaturbezogene Kontext, der dieser Bezeichnung ihren Sinn gab, bleibt außerhalb seines Horizontes.

Die Studie geht auf die Ubiquität der Gewaltwahrnehmungen in Bölls Werk ein; gezeigt wird auch, dass sich für Böll die Manifestationen der Gewalt mit der Niederlage des Dritten Reichs zwar verändert haben, dass die Gewalt aber keineswegs verschwunden ist - im Gegenteil: Hinter der Behauptung, sie sei vergangen und überwunden, formieren sich neue Praktiken der Unterscheidung von Gewinnern und Verlierern, der Ausgrenzung und Unterdrückung, die zwar ,zivilisierter' geworden und nicht zu vergleichen sind mit dem Terror der Nazizeit, gleichwohl tief in die Existenzen der Romanfiguren eingreifen. Entscheidend wäre es nun, Bölls Konzeptionen der Gewalt und ihres Wandels auf den Alltagskonsens zu beziehen, der zwischen legitimer und illegitimer, legaler und illegaler, guter und böser Gewalt unterscheidet und auf dieser Basis sowohl rechtlich als auch moralisch urteilt. Bölls Texte verurteilen alle Gewalt, auch diejenige, die rechtstaatlich legitimiert und dadurch scheinbar zivilisiert ist. Bölls Moralisierung der Gewalt konfligiert mit dem Alltagsverständnis; seine Texte machen die gewohnte Unterscheidung von guter und böser Gewalt nicht mit. So wird der Wandel gesellschaftlicher Gewaltbegriffe als Zeichen für die Willkür von Zuschreibungen begriffen: Bei weitem nicht jede Gewalttat wird zu dem Zeitpunkt, zu dem sie begangen wird, als Verbrechen wahrgenommen, thematisiert und bestraft. Die Erfahrung des Krieges, in dem Gewalt generell zulässig, ja geboten ist, bestimmt die Wahrnehmung auch der scheinbar friedlichen, zivilisierten Gesellschaft. Man kann dies mit Glatz als Moralisierung, als Standpunkt eines Moralisten begreifen, muss dann aber auch zeigen, daß Bölls Prosa nach Möglichkeiten sucht, die Trennung von Moral und Recht (deren theoretische Diskussion Niklas Luhmann zeitgleich mit Bölls literarischen Erfolgen forcierte) zu überwinden, indem sie sie zunächst als ,Faktum' anerkennt. Die Justiz, die, moralisch entlastet, zwischen Recht und Unrecht unterscheidet, wird ihrerseits der moralischen Beurteilung unterworfen. Damit wird der Verbrechensbegriff auf neuer Ebene moralisiert; nicht mehr nur derjenige darf als Verbrecher bezeichnet werden, der von den Gerichten und den Strafjuristen (die bekanntlich ihre eigenen Vergangenheiten haben) verurteilt ist, sondern jeder, der - handfest oder symbolisch - Gewalt anwendet. Solch weite, moralisch begründete Gewalt- und Verbrechensbegriffe haben Auswirkungen auf die Konzeption der Schuld bei Böll: Wo jede Gewaltanwendung zu moralischer Schuld führt, stellt sich unmittelbar die Frage der Notwehr (weit, nicht spezifisch strafjuristisch verstanden). Sie wird gleichsam in den Strudel der Umdeutungen hineingezogen: Derjenige, der sich gegen Gewalt wehrt, muss sich darüber klar sein, dass er damit auch schuldig wird (und die Schuld des Angreifers noch verdoppelt).

Die radikale Moralisierung des Gewaltdiskurses wendet sich gegen den Alltagskonsens des willkürlichen Ein- und Ausschließens: dies scheint mir der Kern der Böllschen Kriminalitätsdarstellung zu sein; sie richtet sich vor allem an die ,schweigenden' Träger des Alltagskonsenses, an die Rechtsunterworfenen und die Objekte der Strafjustiz sowie an die Rezipienten des medialen Abfeierns der Fahndungs- und Verurteilungserfolge von Polizei und Justiz. Bölls literarische Konzeptionen von Gewalt, Verbrechen und Justiz sind Teil seines gesellschaftskritischen Engagements, auch insofern ist Glatz nicht zu widersprechen. Doch kommt man mit dieser Feststellung auch zum Kern von Bölls Literaturverständnis, das von der zeitgenössischen Kritik oft genug als widersprüchlich empfunden wurde und eben darum mit dem Etikett des ,Moralisten' versehen wurde. Tatsächlich hat sich Böll mehrfach dazu geäußert, dass er die Literatur in den Freiräumen der zulässigen Avantgarde und des "L'art pour l'art" gefangen sehe und dass er mit seinen Texten die Auflösung dieses Paradoxes im Blick habe. Natürlich müssen solche Selbstinterpretationen nicht übernommen werden, doch sie können zum Ausgangspunkt der Textanalysen gemacht werden und zur Problematisierung der erzählerischen Organisation und der Konfliktkonstruktionen herangezogen werden. Lesbarkeit und Unterhaltungsqualität der Texte Bölls sollten den Blick auf die Reflexionen des ,realistischen' Erzählens nicht verstellen, die in seinen Justizdarstellungen besonders offenkundig sind. Es sind just die Identifikationsfiguren, die zu Trägern der auch von Glatz beschworenen ,Ambivalenz' in den Texten Bölls werden - sie sind eben nicht die Sprachrohre des Autors und Verkünder seiner moralischen Positionen. Sympathiebekundungen sind fragwürdig, wenn sie z. B. dem Richter Stollfuss (aus "Ende einer Dienstfahrt") gelten, der in den sechziger Jahren auf etwa vierzig Jahren ununterbrochenen Justizdienstes zurückblicken kann und befriedigt feststellt, wenigstens nie an einem Todesurteil mitgewirkt zu haben, der aber in der Gegenwart des Textes zulässt, dass das Strafverfahren politischer Strategie gehorcht und zum Spiel auf einer Bühne wird, deren Kulissen die wahren Interessen verdecken. Sympathie beruht am Ende darauf, dass wesentliche Teile eines Zusammenhangs oder einer Biographie verschwiegen werden.

Glatz' Studie enttäuscht, weil sie die Radikalität der literarischen Konzeptionen Bölls allzu vorsichtig und unreflektiert mit dem Alltagskonsens über das Gute und das Böse versöhnen will und auf diese Weise einem 'Realismus' das Wort redet, der den Bestand der Regeln und Institutionen des Ausschließens und Unterwerfens garantiert. Sie befreit den Moralisten nicht vom Verdacht der gutmeinenden Naivität. Damit, so scheint mir, unterschätzt sie Böll ein weiteres Mal.

Titelbild

Lawrence F. Glatz: Heinrich Böll als Moralist.
Peter Lang Verlag, New York 1999.
329 Seiten, 56,20 EUR.
ISBN-10: 0820440280

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