Steinzeit der elektronischen Welt
Eine Frankfurter Tagung thematisiert "Buchmaschinen"
Von Ulrich Rüdenauer
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseEine Computergeneration, deren Zeit abgelaufen ist, landet unwiderruflich auf dem Schrotthaufen der Technikgeschichte. Wer sich Ende der 80er Jahre nicht rasch von seiner Olivetti-Speicherschreibmaschine trennte und auf PC umstieg, musste sich später in einem Crash-Kurs die Quantensprünge moderner Datenverarbeitung aneignen. Das Haltbarkeitsdatum elektronischer Schreibprogramme liegt eben nur knapp über dem von Milchprodukten. Der Portable Personal Computer IBM 5155, im Jahr 1986 der letzte Schrei, erweckt heute ein ähnliches Staunen wie antike Schriftstücke in der Altertumsabteilung eines Museums. Nur: Diese historischen Speichermedien lassen sich unter bestimmten Voraussetzungen lesen. Was dagegen auf einem heute überholten Computer verfasst wurde, kommt nicht mehr so leicht auf die Nachwelt. Die NASA scheitert daran, ihre eigenen Aufzeichnungen der Mondlandung zu entziffern.
Wie kann diese Rasanz diskurstechnisch noch einigermaßen bewältigt werden, und welche Folgeerscheinungen wird das zunehmende Verschwinden von Spuren aus der Steinzeit des Netzes zeitigen? Wie verändert sich in Anbetracht der neuen medialen Versprechen das Schreiben selbst, wenn, wie Nietzsche sagt, das Schreibzeug an unseren Gedanken mitarbeitet? Werden Leser und Autor in den Weiten des Netzes ununterscheidbar? Und was wird aus dem guten alten "Festwertspeicher" Buch? Im Literaturhaus Frankfurt spürte man diesen Fragen entlang des magischen medientheoretischen Dreiecks "Lesen, Schreiben, Speichern" nach: Eine von Thomas Hettche organisierte Tagung trug den irgendwie romantisch-technizistischen Titel "Buchmaschinen. Alte Erinnerungen und ihre neuen Speicher". Eine begleitende Ausstellung illustrierte den Prozess vom Hand-Buch über das Maschinen-Buch bis zum E-Book.
Das klingt verdammt nach einem interdisziplinärem Rundumschlag der gehobenen Kategorie, und tatsächlich: eingerahmt vom Medienphilosophen Friedrich Kittler und dem als literarischen Internet-Pionier gehandelten Rainald Goetz tummelten sich drei Tage lang Wissenschaftler, Künstler, Geschäftsleute und Medienpartner auf dem Podium. Und: Das Podium ist die Botschaft. In gewissem Sinne bildet nämlich die eher ungewöhnliche Zusammensetzung von Referenten samt unterschiedlicher Zugangsweisen auch das Thema in seiner ganzen Diffusität ab: man weiß noch nicht so recht, wo es mit den allerneuesten Medien hingeht und wer eine gewisse Diskurshoheit beanspruchen darf; nur dass man dabei sein muss, wurde von keinem der Teilnehmer ernsthaft bestritten. Drin sein müssen dementsprechend auch die Schriftstellerinnen und Schriftsteller. So wird von den Ausstellungsmachern keck behauptet: "Die literarische Landschaft bildet sich inzwischen recht komplett im WWW ab" - wovon man sich an eigens eingerichteten Compterterminals überzeugen durfte.
Dass im Laufe der Tagung immer mehr Fragen angehäuft statt abgebaut wurden, ist der Dynamik des Entstehenden geschuldet. Dass aber das Publikumsinteresse die Veranstalter nicht gerade in Raumnot brachte, ist erstaunlich bei einem Thema, das auf der Symposien-Hipness-Skala momentan wahrscheinlich nur unwesentlich hinter dem Diskursanheizer "Gentechnik" rangieren dürfte. Vermutlich liegt diese Tagungsmüdigkeit nicht zuletzt an der Akzelerationsmaschine Internet, in die man euphorisch oder auch skeptisch hineingeraten ist: Sie absorbiert in gewisser Weise das Interesse an Reflexion, die einen Schnitt bedeuten würde, ein kurzzeitiges Innehalten. "Alle acht bis neun Monate muss man sich selber in die Tonne treten", meint der Referent Harald Taglinger, Communication Manager bei Microsoft. Dann kann man als Phönix aus der Asche wieder als neue Oberfläche im digitalen Wunderland aufsteigen. Diesen Reproduktionsdruck muss man erst einmal aushalten. "Ich schwanke zwischen Kulturpessimismus und der Einrichtung einer eigenen Homepage. Und vielleicht ist dieses Schwanken sogar die angemessene Haltung", hat Burkhard Spinnen kürzlich geschrieben. Von solcherlei Dialektik war in Frankfurt allerdings eher wenig zu spüren.
Thomas Hettche ist schon lange drin. Seit 1984 nämlich, das teilt er mit anderen Tagungsgästen: Das Orwell-Jahr scheint für Computer-Initiationserlebnisse ein gutes gewesen zu sein. Dem Romancier, der 1999 mit der Online-Anthologie "Null" seinen öffentlichkeitswirksamen Einstand im WWW feierte, ging es bei den Maschinen der Imagination um etwas, das schon jenseits sentimentaler Blicke aufs Buch liegt: "Es gilt, an den Nahtstellen des technologischen Wandels zu beobachten, welche Zukunft die Vergangenheit der Bücher uns bringen wird."
Dieser Forschungsauftrag ruft geradezu nach Friedrich Kittler, dem Guru der Medienwissenschaften, der Derrida und McLuhan als einer der ersten in deutschen Hörsälen im Munde führte. Sein Parforce-Ritt durch die Geschichte des Buchs im unvergleichlich-groovigen, badisch gefärbten Kittler-Sound führt von der Papyrusrolle zum Codex, vom lauten zum stillen Lesen und zu einer luziden Hypothese über schöne Literatur: "Man darf vermuten, dass erst die Unterscheidung zwischen technischen und nicht-technischen Drucksachen die neuzeitlichen Begriffe des literarischen Autors auf der einen Seite und der literarischen Fiktion auf der anderen hervorgebracht hat." Und er konnte auch den Adepten des Buches Mut machen. Im Prinzip handelt es sich nämlich trotz aller Unterschiede bei Buch und Computer um diskrete Medien - symbolische und kombinatorische Maschinen. Im Gegensatz etwa zum Fernsehen, das im neuen Medium verschwinden wird. Schreiben und Lesen, sagt Kittler, sind nicht obsolet. Sie fallen im Computer lediglich zusammen. Uff.
Von den Höhen der Theorie, auf denen auch der Frankfurter Medienwissenschaftler Manfred Faßler mit Überlegungen zum "unfassbaren Buch" schwebt, geht es mit Christiane Munsberg von BOL erst einmal hinab auf den harten Boden des Marktes. BOL, das E-Commerce-Geschäft des Bertelsmann-Konzerns, war einer der Sponsoren der Tagung. Munsberg, direkt aus einem Management-Seminar auf die Veranstaltung losgelassen, präsentiert bunte Zahlen und Fakten aus dem expandierenden Online-Buchgeschäft, vor allem aber ihren Arbeitgeber BOL. Mit dem angekündigten Thema "Demokratisierung der Lesekultur" hat dies nur unter Aufwartung kühner Assoziationsleistungen etwas zu tun. Aufschlussreich ist es trotzdem; man merkt für einen kurzen Moment förmlich, wie das Literaturhaus von Vokabeln widerhallt, die ansonsten an der Eingangstür aussortiert würden: Leser heißen in der Welt der New Economy eben "Endkunden", denen man "Themen kommunizieren" und deren Interesse man "möglichst breit abgreifen" muss - "Content is King". Für die Buchpreisbindung ist Munsberg nicht zuletzt deshalb, weil es wenig "entertaining" wäre, die kleineren Buchhandlungen sterben zu sehen. Das ist ein fairer Zug der Bertelsmann-Tochter.
Die Spannung von Kulturpessimismus und Affirmation der Brave New Media World wird ja oft genug nicht nur gesamtgesellschaftlich, sondern in einem einzigen Individuum ausgetragen. Die meisten Teilnehmer der Tagung schienen davor gefeit oder arbeiten wie die Künstlerin Sigrid Sigurdsson abseits von solchen Diskussionen an einem Langzeitprojekt wie den "offenen Archiven" - eine Bibliothek, in der Vergangenes nicht nur abgespeichert wird, sondern wo "begehbare Gedächtnisbilder bewohnbarer Erinnerung" entstehen sollen.
Bei der Lyrikerin Brigitte Oleschinski leuchtet eine Dimension des Dazwischen auf. Ihr Vortrag spiegelt das Unentschiedene, indem er zwischen Essay und Poesie changiert und zunächst einmal eine Perspektive der Erinnerung aufmacht: Eine Rückschau auf die Mediensozialisation eines kleinen Mädchens, das mit einem Vierfarbstift - schon ein ziemlich komplexes Schreibutensil - und einem Ringbuch ins Schreiben findet. In diese Vergangenheitsbilder sind Erfahrungsmomente mit den neuen Medien geschaltet, die aber nicht zu einer abgeschlossenen These führen, sondern in einem fragenden Gestus verharren. Ihr ideales Buch ist eines, in dem alle anderen enthalten wären, ein Buch, das im Kopf entsteht und vermutlich eher Ähnlichkeit mit dem Ringbuch der Kindheit als mit dem E-Book hat.
Dass die Probleme und Ideen der Teilnehmer sich auf verschiedenen Ebenen ansiedeln, merkt man deutlich bei der samstäglichen Podiumsdiskussion. Oleschinski betont die spezifische Form des Gedichts als prozesshaftes Gebilde, das es in jedem medialen Umfeld schwer habe, und plädiert für ein Misstrauen gegen die eigenen Erinnerungen: "Die Beschäftigung mit dem Zersetzungsprozess ist ein Gegen in einer Situation, die soviel Für zu verlangen scheint."
Nur kurze Zeit hat man den Eindruck, es könnte wirklich kontrovers werden: Manfred Faßler fordert, in die Netzlandschaft eine Zeitregion einzuziehen, die über eine Technikgeneration hinaus die Möglichkeit bietet, zu lesen, was vor fünf oder sechs Jahren geschrieben wurde - eine Art "Internet-Archäologie", so Moderator Denis Scheck. Dass die Wirtschaft diese Nachhaltigkeit leisten solle, stößt auf vehemente Ablehnung. Thomas Hettche beharrt darauf, dass es im Netz nicht um soziale Räume gehe, dieses vielmehr "ein Ort des Todes" sei. Die multimedialen Möglichkeiten und die "Auflösung der Linearität" wird erkauft durch ein schon geschaufeltes Grab, in dem die "wilden Texte" im Zeitraffer verschwinden. Harald Taglinger lobt das Netz als "öffentlichen Marktplatz". Allein: Was dessen Arbeitgeber Microsoft unter Öffentlichkeit versteht, will Faßler erst einmal hinterfragt wissen.
Heiko Idensen führt tags darauf seine Internetsprachspielereien als Performance vor und konkretisiert damit das schwärmerische Reden von Hypertextualität und Netzliteratur: Was Burroughs noch mit Schere und Klebstoff fabriziert hat, wird bei ihm zum virtuellen Cut-up. Das Internet betrachtet er als einen "intertextuellen Diskursraum", in dem sich der Akteur als sampelnder DJ bewegt und eine Hybridisierung zwischen Form und Inhalt, Leser und Schreiber stattfindet. Mit Inhalten hat das nichts zu tun, alleine mit Vernetzung: Das ist die Adaptation avantgardistischer Konzepte für die digitale Gegenwart - dabei verlieren sie an haptischer Qualität und gewinnen vermeintlich an visueller. Ja, keiner gibt während der gesamten Zeit den Hacker so schön wie der sich schon seit den 80er Jahren mit euphorischen Manifesten pro Computerkunst hervortuende Idensen: Er tippt seine Erkenntnisgewinne selbst noch auf dem Podium in sein Laptop.
Mitschreiben? Mitschreiben mit der Wirklichkeit? War da nicht noch wer? Genau: Rainald Goetz, "Chronist der Gegenwart", hat 1998 ein Internet-Tagebuch mit dem Titel "Abfall für alle" geführt und darin häufig die alte Form "Buch" als etwas Heiliges gefeiert. Ironisch ist in gewisser Weise, dass er die Heilsversprechungen des Netzes - Hypertextualität und Multimedialität - unbeachtet lässt und das Medium nur im Sinne einer Geschwindigkeitssteigerung nutzt: "Abfall für alle" war, was den Seitenaufbau betrifft, an Schlichtheit kaum zu überbieten - keine Bilder, keine Links, kein Schnickschnack.
Im Gespräch mit Thomas Hettche geht es aber weniger um diese Gleichzeitigkeit der Ungleichzeitigkeit verschiedener Speicherformen und deren Einfluss auf die Arbeitsweise als vielmehr um das Mediale überhaupt. In den frühen 80ern seien Medienfragen für Goetz noch wirkliche Fragen gewesen, Ende der 80er Jahre hat er sie dann in den Prozess des Schreibens selbst hineingenommen. Dieser Logik folgend schiebt sich das Podiumsgespräch auch rasch auf eine Meta-Ebene: Die konkrete Situation der Sprecher und Vorleser im Moment der Schriftsteller-Performance und Goetz' Unbehagen daran geraten zum eigentlichen Thema. Hier werden zudem ganz am Ende der Veranstaltung Fragen aufs Podium gehievt, die bei allem Geschwindigkeitsrausch der großen Erzählung Internet noch eine Weile aktuell bleiben könnten: das Verhältnis von Authentizität und Fiktionalität, von Affirmation und Negation etwa. Wie in den Romanen mindestens der letzten 100 Jahre.
Literaturtipp:
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