Schwarze Schatten, überall
Friedrich Ani skizziert die "German Angst"
Von Doris Betzl
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseLucy Arano wird 14 Jahre alt. Sie ist groß für ihr Alter und kräftig, und wer ihr zu nahe kommt, hat selbst Schuld. Denn ohne ihre Erlaubnis darf das niemand. Wenn jemand sich fürchten soll, dann die anderen. Nur manchmal passiert etwas, das ist stärker als Lucy. Dann kommt die Finsternis über sie, und nichts hilft, außer zu warten, dass sie vorüber geht.
Lucy sorgt für Schlagzeilen in der Stadt München. Sie raubt, prügelt und stiehlt. Achtundsechzig Fälle zählt die Polizei, doch solange sie nicht strafmündig ist, kann ihr keiner etwas anhaben. Weder die Bürger, die sie am liebsten ins Flugzeug setzen würden, nach Nigeria, dahin, wo sie hingehört - am besten gleich zusammen mit dem Vater, der seit seinem sechsten Lebensjahr in Deutschland lebt - noch Tabor Süden, Kommissar im Polizeidezernat 11, der trotz aller Unterschiede eines mit dem Mädchen gemein hat: die Welt, der er sich täglich gegenüber sieht, bringt ihn zum Verzweifeln.
Als die "Aktion D" in die Öffentlichkeit tritt, wird es Nacht mitten am hellichten Tag. Die Kameradschaft aus Mitgliedern der Deutschen Republikaner fühlt sich berufen, mit Hilfe von Handlangern "für das Wohl in unserem Lande" sorgen. Der Mond schiebt sich vor die Sonne, als Netty, die Geliebte von Lucys Vater entführt wird. ln einem öffentlichen Schreiben fordern die Kidnapper die Abschiebung der Aranos, bevor die Deutsche freigelassen wird.
Zu einem Thema, das momentan die Gemüter mehr denn je erhitzt, legt der ehemalige Polizeireporter Friedrich Ani mit "German Angst" eine Milieustudie aus der bayerischen Landeshauptstadt vor. Auch wenn hier notwendiger Weise die Extreme gegeneinander antreten, dem Klischee verfällt der Erzähler nicht. Selten stolpert man über Sätze, die phrasenhaft, "krimi-like" klingen. Sorgsam werden alle Figuren gezeichnet, auch jene aus der Mitte der Gesellschaft, die Südens Weg zufällig kreuzen: der Taxifahrer, die Gruppe von Fassadenmalern, die alte Dame, die Opfer von Lucys Aggressionen wird. Die Bevölkerung kommt zu Wort, urteilt über das schwarze Mädchen und die Aktion D und über die "Zustände in unserem Land".
Der Leser traut sich nicht zu urteilen, und das ist gut so. Was "German Angst" so lesenswert macht, ist seine Mehrschichtigkeit: neben dem souverän konstruierten Spannungsbogen, der mit seinen abrupten Ortswechseln durchaus Drehbuchqualitäten besitzt, besticht der Roman vor allem durch seine psychologische Komponente. Ani erstellt Charakterprofile von seinen Figuren. Eindrucksvoll: die unbestechlich klare Sicht der Dinge, die der Autor dem Aussenseiter Tabor Süden zuschreibt. Süden versucht Lucy zu erklären, was sie für die Bevölkerung bedeutet: "Sie fürchten sich, [...] weil es ihrer Natur entspricht. Es ist praktisch für sie, daß du schwarz bist, so haben sie eine Rechtfertigung für ihr Verhalten. Ein schwarzes Kind, das wahllos Menschen angreift, ist ein Glücksfall für sie, du bist ein Fleisch gewordener Angstmagnet. Sie denken, je mehr sie dich fürchten müssen, desto weniger wird ihre Furcht, sie denken, du saugst die Furcht aus ihnen heraus und wenn sie dich dann verjagt und verbannt haben, weit weg in der Gewissheit, du kommst nie wieder zurück, freuen sie sich wie Kinder. Und dann fürchten sie sich wieder und suchen eine neue Lucy."
"Wer sind ,sie'?" fragt Lucy. Und die Antwort überrascht uns nicht: "Wir. Wir alle. Niemand ist eine Ausnahme."
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