Chronologie des Wahnsinns
Ian Kershaw hält im zweiten Teil seiner Hitler-Biographie das hohe Niveau des ersten
Von Oliver Georgi
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDas tiefste Trauma der deutschen Geschichte - die unsagbaren Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Dritten Reich - prägt unsere bundesrepublikanische Wirklichkeit bis tief hinein in die Berliner Republik. Unser Land hat noch immer nicht zu einem angemessenen Umgang mit diesem dunkelsten deutschen Kapitel gefunden, so es ihn überhaupt gibt. Besonders die Figur Adolf Hitlers hat bis heute nicht nur auf Rechtsradikale Einfluss, sondern ist lange Zeit zu einer dämonischen Gestalt gleichsam hochstilisiert worden, die das "absolut Böse" verkörpere und der mit rationalen Gesichtspunkten nicht beizukommen sei.
Der Hitler-Biograph Ian Kershaw, Direktor des Historischen Instituts an der Universität in Sheffield, hat nach dem ersten Band seiner ungemein intensiv rezipierten Hitler-Biographie, die das frühe Leben des Diktators bis zum Jahre 1936 nachzeichnete, nun den zweiten Band vorgelegt und damit sein umfangreiches Gesamtkompendium vollendet, das durch seine Komplexität und Detailgenauigkeit zum Standardwerk der kommenden Jahre werden wird.
In diesem zweiten Band entwickelt Kershaw auf gut 1.300 Seiten eine Chronologie des nazistischen Herrschaftssystems vom Jahr 1936 bis hin zum Kriegsende und dem Selbstmord Hitlers. Wie auch schon im ersten Band stellt Kershaw keine psychologisierende Charakterdarstellung der infernalischen Figur Hitlers in den Mittelpunkt, sondern zeigt den Diktator in einem Machtgeflecht der herrschenden Schichten des Dritten Reiches. Kershaw versucht so die Frage zu klären, wie Hitler über eine in dieser Art zuvor nie gekannte Gewaltbereitschaft verfügen und seine Stellung selbst nach Krisen und Fehlschlägen nicht nur halten, sondern noch verstärken konnte. Kershaw verfolgt damit eine andere Strategie als Joachim Fest im Jahre 1973, der die Figur Hitlers von dessen Psychologie her zu erklären versuchte, um die Problematik des Dritten Reiches gleichsam ideengeschichtlich zu erörtern. Fest nahm das Hitler umgebende gesellschaftliche Umfeld aus seiner Betrachtung heraus - der "Hitler-Zentrismus", den Fest auch als "Hitlerismus" bezeichnet, entspricht hingegen nicht mehr dem heutigen Forschungsstand.
Kershaw konnte bei seiner Arbeit neuerdings zugängliche Archive der Sowjetunion und der ehemals kommunistischen Staaten nutzen. Darüber hinaus liegen heute die Goebbels-Tagebücher vollständig ediert vor - ein in Kershaws Worten "ständiger Kommentar" zu Hitlers Person und der Politik des Dritten Reiches. Mag Kershaws Werk stilistisch nicht so brillant sein wie Joachim Fests Biographie aus dem Jahre 1973; in puncto Detailreichtum und Quellennutzung übertrifft sie das bisherige Standardwerk. Allein der über 300 Seiten umfassende Anhang dieses zweiten Teiles der Biographie zeugt von größter Präzision im Umgang mit Quellen. Hinzu kommt, dass Kershaws Arbeit sehr gut lesbar ist. Damit geht dieses Buch über die begrenzte Reichweite elitärer Historikerkreise hinaus.
Im Forschungsansatz Kershaws nimmt die im Dritten Reich gängige Maxime "dem Führer entgegenarbeiten" eine wichtige Funktion ein; ein Terminus, der von einem führenden NS-Funktionär geprägt wurde. Hitler selbst habe, so Kershaws These, in vielen Fällen keine expliziten Befehle zur Radikalisierung etwa der Judenfrage oder seiner expansionistischen Machtpläne geben müssen. Vielmehr sind es seine Untergebenen wie Himmler, Göring und Goebbels gewesen, die sich im egoistisch-darwinistischen Herrschaftssystem des Dritten Reichs profilieren wollten und deshalb schon kleinste Andeutungen des Führers zum Anlass für eine Ausarbeitung eines fertigen, vorlagebereiten Konzeptes nahmen. Kershaw macht deutlich, dass diese Art des "Entgegenarbeitens" als Grundfundament von Hitlers Macht und der "unbefohlenen" Radikalisierung seiner Politik angesehen werden muss. In dieser klaren Zuspitzung liegt eine der Hauptvorzüge von Kershaws Werk, erklärt sie doch schlüssig und durchaus nachvollziehbar, warum bis zum heutigen Tag beispielsweise kein schriftlicher Befehl Hitlers überliefert werden konnte, mit dem dieser explizit den Holocaust anordnet.
Kershaw ist überzeugt: Hitler brauchte Befehle in vielen Fällen nicht schriftlich und ausdrücklich weitergeben; er gab die verquaste und seit den 20er Jahren unveränderte Ideologie vor, die allen Untergebenen Leitsatz und "göttliche" Anordnung war, den Rest erledigten Goebbels und seine Schergen aus Profilierungssucht und der Überzeugung, im Sinne des Führers zu handeln.
Kershaws Werk ist deshalb so überzeugend, weil es sich erfolgreich an einer allgemeingesellschaftlichen Ausdeutung des Dritten Reiches versucht. Es verfolgt die Geschehnisse chronologisch, erläutert machtpolitische Zusammenhänge in den Kreisen des Regimes wie solche in den unteren Gesellschaftsschichten. Zudem zeigt es die blinde Begeisterung des Volkes im Jahre 1936 und die zunehmenden Zweifel am Geschick des Führers in den Jahren 1938 und 1939 auf. Gleichzeitig entlarvt Kershaw, wie unorganisiert und unkoordiniert Hitlers Politik ablief: weitläufige Pläne und durchstrukturierte Maximen, etwa in der Außenpolitik, existierten kaum - bis auf den als "naturgesetzliche Notwendigkeit" betrachteten Krieg zur "Ausrottung des Bolschewismus" zu einem sehr viel späteren Zeitpunkt. Hitlers politisches Agieren belief sich in den meisten Fällen auf affekthafte, situative Reaktionen auf sich plötzlich ergebende Chancen zur Expansion. Hitlers Überzeugung, so arbeitet Kershaw heraus, war die Notwendigkeit des unablässigen Handelns: "Nicht-Handeln [...] müsse sehr bald zu inneren Krisenerscheinungen führen und würde ein 'Schwächungsmoment des Regimes' bilden. Die kühne 'Flucht nach vorn', die gleichsam Hitlers ,Markenzeichen' war, lag im Wesen des Nationalsozialismus."
Ian Kershaws Biographie leistet zudem ein Weiteres: sie demontiert den "Dämon" Hitler, stutzt ihn zu dem kranken, in seiner tumben Ideologie hoffnungslos verrannten Menschen zurecht, der er war. Der Historiker demonstriert die durch die nervlichen Belastungen der letzten Kriegsjahre zunehmenden Alterserscheinungen Hitlers, der nur noch durch Tabletten und Spritzen handlungsfähig war. Er beschreibt einen Menschen, der unfähig war für menschliche Beziehungen, der launisch, jähzornig und affekthaft handelte und ihm vorgelegte Gesetzesvorlagen ohne wirkliches Studium fast blind unterzeichnete. Gerade in dieser Demontage liegt das wesentlich Entscheidende der neueren Hitler-Forschung und von Kershaws Arbeit: indem man den "Dämon" Hitler ohne satanische Verabsolutierung betrachtet und in seiner kranken Menschlichkeit zeigt, "entzaubert" man ein Phantom der deutschen Geschichte. Man nimmt ihm die Anziehungskraft und die Faszination, die alles Böse ausübt.
Kershaw verharmlost oder unterschätzt die Bedeutung Hitlers für das Dritte Reich jedoch in keinem Augenblick. Vielmehr enthüllt er Wechselwirkungen zwischen einem Diktator, einem politischen System, das sich auf Hitler als unangefochtene Führungsautorität berief und einer Gesellschaft, deren soziales und psychologisches Gefüge Hitler erst ermöglichte. Hitler aus seiner dämonischen Überlieferung zu lösen, heißt demzufolge nicht, ihn zu bagatellisieren. Wichtig ist es Kershaw allerdings, die Figur Hitler im Gesamtkomplex des politischen und sozialen Gefüges des Dritten Reiches zu sehen.
Kershaws Werk wird auf lange Sicht dazu beitragen, sich ein noch genaueres, noch fundierteres Bild des Dritten Reiches und seinem "Führer" zu machen. Je detailreicher und undämonischer dieses Bild, desto geringer wird die Gefahr der fatalistischen Verklärung des Bösen, der "negativen historischen Größe" (J. Fest). Kershaw sucht Erklärungsmuster, keine Rechtfertigungen für ein allzu menschliches Monster.
Hitler allein verkörpert zwar nicht das Dritte Reich, dennoch liegt in seiner Person der Schlüssel zu einem Kapitel der deutschen Geschichte, das man niemals begreifen, dessen Mechanismen und Wechselwirkungen man jedoch erkennen kann und erkennen muss, um aus der Geschichte zu lernen. Kershaws Fleißarbeit wird hoffentlich ihren Teil dazu beitragen.
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