Fortgesetztes Aufbäumen

Jean Zieglers Klassiker "Die Lebenden und der Tod" in einer Neuauflage

Von Frank MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Tod, sagt Arthur Schopenhauer, sei "die große Zurechtweisung, welche der Wille zum Leben [...] durch den Lauf der Natur erhält. Und er kann aufgefaßt werden als eine Strafe für unser Daseyn". Die Mortalitätsrate, sekundiert sein später Schüler Ulrich Horstmann angesichts des Machbarkeitswahns der modernen Apparatemedizin, beträgt nach wie vor einhundert Prozent. Welche Finten und Manöver wir auch ersinnen mögen, gegen eine derart hohe Dunkelziffer ist kein Kraut gewachsen. Alles was bleibt, ist einvernehmliche Resignation.

Dem tiefen Pessimismus Schopenhauers gegenüber wäre eine Position anzusiedeln, die versucht, der Auseinandersetzung mit dem Tod und dem Sterben als einer "Lust am Untergang" (Horstmann) eine heitere Seite abzugewinnen. Auf dergleichen stößt man vor allem im Umfeld der Psychoanalyse. "Das Sterben", behauptet Georg Groddeck, Zeitgenosse Freuds und Begründer der psychosomatischen Medizin, "ist für mich nicht der Beweis der Verzweiflung, sondern das Ergreifen von Glücksbedingungen, die auf andere Weise nicht zu erreichen sind." Für Groddeck liegt eine Lusterfüllung im Sterben, genau so wie im Einschlafen.

Jean Ziegler, der Verfasser der 1977 erstmals in deutscher Sprache erschienenen und inzwischen zum Klassiker avancierten Todessoziologie "Die Lebenden und der Tod", gehört zu keinem dieser beiden Lager. So groß Zieglers Angst vor dem eigenen Hinscheiden ist, so groß ist freilich auch sein Verlangen, das tiefschwarze Vakuum des Nicht-mehr-Seins mit Sinn zu füllen. Wir müssen den Tod durch im Leben vollbrachte Taten zu überwinden suchen, ein Bollwerk gegen den verzehrenden Mahlstrom errichten, auf dass er uns nicht mit sich fortreißt: "Jeden Tag [...] so viel Glück für sich und die andern, so viel Sinn zu erschaffen, dass, am Ende des Lebens, dieses Leben seiner eigenen Negation so viel Sinn wie möglich entgegenzusetzen vermag."

Doch die gegenseitige Aufrechnung von Soll und Haben, das läßt sich auf dem Schopenhauerschen Abakus leicht nachvollziehen, wird nichts fruchten. Noch der hoffnungsfrohste Kandidat spielt sich hemmungslos in die 'Miesen'. Gleichwohl ändert die Tatsache, dass die Aufrichtung von Sinnattrappen das nagende Bewusstsein der Hinfälligkeit allenfalls zu überdecken vermag, nichts an der objektiven Richtigkeit der Zieglerschen Befunde. Ausgangspunkt des Bandes ist die schon von Philipp Ariès' "Geschichte des Todes" konstatierte Tabuisierung des Lebensendes. An die Stelle des biblischen Tods, den die Väter alt und lebenssatt starben, ist in der Moderne der ,verbotene Tod' getreten: die Technifizierung des Sterbens und kalte Ausgliederung des Toten aus der Gemeinschaft.

Trotz dieser Gemeinsamkeiten muß sich Ariès von Ziegler den Vorwurf gefallen lassen, dass seine Begriffe von 'archaisch' und 'modern' Etappen auf einer evolutionären Linie bezeichnen und er sich in seiner Betrachtung auf bestimmte Ausschnitte der abendländischen Gesellschaft beschränkt habe. Größere Umsicht legt da die generative Soziologie des Schweizer Thanatologen an den Tag. Eine weitere Besonderheit der Zieglerschen Arbeit ist die auf neomarxistische Positionen gestützte Kritik des kapitalistischen Produktions- und Akkumulationsprozesses.

In der kapitalistischen Gesellschaft, so argumentiert Ziegler, stellt der Tod eine Schwelle dar, auf die sich der Mensch beständig zubewegt, bis er dann in ein endgültiges Nichts abstürzt und nach kurzer Pflege bereits zu Abfall geworden ist. Das Sterben selbst wird in Schweigen gehüllt, der Tod damit seiner existenziellen Bedeutung und Würde beraubt. Der Mensch reduziert sich auf seine Warenfunktion. Da gibt es den "Warenkannibalismus", der die Organe des Toten zu zirkulierenden Objekten von Spekulationsgeschäften bestimmt. Da gibt es die ausgefeilten Techniken des death-control, die den Todkranken nur noch im Austausch mit anderen Systemen der Produktion existieren lassen (künstliche Niere, eiserne Lunge).

Da gibt es schließlich die "Thanatokraten", die sich zu Herren über die Sterbenden aufwerfen. Selbst in seiner Eigenschaft als uninteressierter Beobachter, so Ziegler in diesem wohl aufrüttelndsten Kapitel des Buchs, sei der Arzt Handlanger einer bestimmten Todestechnik: "Wie der Torero in der Arena bestimmt er im Angesicht des verwundeten Wesens den Moment der Tötung." Dem zuweilen mit unerschütterlicher Arroganz vorgetragenen Wissen des Arztes kann Ziegler gewichtige psychoanalytische und erkenntnistheoretische Argumente entgegen halten. Im Unterbewussten des Patienten ist bis zu einem bestimmten Stadium der Agonie eine tiefe Zurückweisung des Todes lebendig, so dass selbst der bewusstlose Kranke immer Subjekt seines eigenen Verschwindens bleibt. Zieglers Arbeit schlägt drastische Töne an ("die Guerilla der Krankenschwestern"), gerade deshalb gelingt es ihr aber, den Blick für das Schauerhafte unseres Umgangs mit den Sterbenden zu schärfen.

Im Unterschied zu Ariès entfaltet der Verfasser die alternativen Formen des Umgangs mit dem Ende nicht nur diachronisch, sondern verstärkt auch unter kulturell-ethnologischem Aspekt. Wie das geht, hat sein strukturalistischer Gewährsmann Lévi-Strauss ("Traurige Tropen") vorgemacht. Aus der Analyse afrikanischer Stammesgesellschaften erhofft Ziegler "Mittel für einen befreienden Kampf in der westlichen Welt" zu gewinnen. Die Bilder dieses 'Anderen', so der Gedanke, könnten den derzeit beobachtbaren Widerständen zusätzlich Auftrieb verleihen. In Afrika wird der Tod in einem Lebenskontinuum rituell begangen, als langsame, ruhige Reise, die in ein späteres Fortleben mündet. Die afrikanischen Interpretationssysteme "belegen die Gestalt des Todes mit Fluch, aber sie zähmen sie. Sie besprechen die Angst des Menschen, aber sie dämpfen sie".

Die enge Kommunikation mit den Toten dient der Übertragung von Informationen vom Ahnen auf dessen direkten Nachkommen. Stirbt ein Priesterkönig plötzlich, ohne Vorbereitung und ohne anstehende Streitsachen noch schlichten zu können, so kehrt er noch einmal aus dem Totenreich zurück. In der Anrufung von Toten oder mittels dargebrachter Opfer ist es möglich, das Leiden der Lebenden, dass von einem Fehlverhalten des Toten oder einfach dessen Ärger herrührt, zu mildern. Wie der Tod für den Sterbenden eine Wiedereingliederung in die Reihe der Abgeschriebenen und Solitären bedeutet, so erhält sich der lebende Mensch mittels der Toten am Leben.

Titelbild

Jean Ziegler: Die Lebenden und der Tod.
Goldmann Verlag, München 2000.
330 Seiten, 8,60 EUR.
ISBN-10: 3442150027

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