Die Tyrannei der Lust und die Kunst des Begehrens

Ein Essay aus Anlass neuerer Bücher

Von Ludger LütkehausRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ludger Lütkehaus

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass nach dem Coitus jedes Lebewesen triste sei, glaubten wir seit längerem zu wissen. Aber dass es derart triste sein würde, wie es derzeit auf allen Kanälen der Lust zu beobachten ist, hätten wir nicht gedacht. Berichte zur sexuellen Lage der Nation, doch was soll da noch die nationale Einschränkung, müssten auf Notstandserklärungen hinauslaufen, nicht weil es zuwenig, nein, weil es bei weitem zuviel von dem gibt, was einmal im Namen der Lust gefeiert wurde, vor allem zuviel Gerede und Gezeige von der Lust.

Die "sexuelle Revolution" der "roaring sixties" - eine im Überdruss erstickte Erinnerung. Gewiss, wir wollen nicht vergessen, dass diese Revolution uns einmal die Glieder gelöst hat. Es wäre krass undankbar, ihr jeden Gewinn an sexueller Befreiung abzusprechen. Und nach wie vor gibt es in ihrem Sinn viel zu tun. "Repressive Milieus" - ach, die guten alten Worte! -, die antimodernistischen Asyle erwünschter Verklemmung, andauernder Schuldproduktion gibt es noch, zu schweigen von der Langzeitwirkung des verinnerlichten schlechten Gewissens. Wer sich heute in den Psychotherapien umsieht und gleichzeitig die pornographischen Kurangebote studiert, weiß, in welchem Maß weiterhin das sexuelle Elend existiert.

Aber die Hoffnung der sexuellen Revolution, dass ausgerechnet im Bett das sonst nur noch schwer auffindbare revolutionäre Subjekt sich erheben würde, war doch etwas zu frohgemut. Sie überstrapazierte nicht nur alle realistischen Erwartungen - sie unterschätzte vor allem, wie versiert die "permissive Gesellschaft" in der Integration alles potentiell Widerständigen ist. Herbert Marcuses famoser Begriff der "repressiven Entsublimierung" hat das früh prägnant bezeichnet.

Die desolaten Feldstudien dazu kann man jeden Abend nach, aber zur Not auch schon vor der Kinderstunde auf den öffentlich-widerrechtlichen kommerziellen Kanälen machen. Sie inszenieren die Farce der sexuellen Freiheit. Keine der früher so genannten "Perversionen", kein sexueller Tic, keine kundenfreundliche Berufsgruppe, die nicht ihren Segen hätte - so weit, so gut. In den Geschichten, die sie vor und zwischen den Akten erzählen, Geschichten der Befreiung, die allemal mit zuverlässigster Zielstrebigkeit von Verklemmung zu Enthemmung führen, lässt sich sogar das Muster sexueller Entwicklungs-, ja ganzer Bildungsromane entdecken. Doch was ist aus der "Sache selbst" geworden, die nun einmal keine Sache ist? Gymnastische Ödnis, die in krudester Vorhersehbarkeit auf dem sexuellen Exerzierplatz den immergleichen Rhythmus vorführt: erstens Cunnilingus, zweitens Fellatio, drittens das Reiterchen, viertens "let's do it the doggish way".

Das bei weitem Symptomatischste aber ist aus dem schönen Ritardando geworden, aus dem sich einst neben dem Geheimnis und der Sünde unsere tiefste Lust nährte: der kommerzielle TV-Interruptus, bei dem ein unsäglicher Reklame-Zwischenakt den noch unsäglicheren sexuellen unterbricht. Doch was heißt hier eigentlich Unterbrechung, wo die vollständige Konvergenz des Sexuellen mit der Reklame längst das offenbare Geheimnis der liberalisierten sexuellen Marktgesellschaft ist.

Das pornographische Vorlustprogramm wird von der Erregung kommerzieller Vorlust abgelöst, die ihrerseits rundum sexualisiert ist - sexualisiert sein muss, weil die völlig überflüssigen Angebote der Überproduktionsgesellschaft nur so mit dem immerhin noch Natürlichen kopuliert werden können -, um in den Vollzug des Aktes, gleich ob die Ejakulation oder die Konsumtion, zu münden. Aber beide Akte müssen um jeden Preis vermeiden, dass das von ihnen bediente Verlangen wirklich gestillt wird. Deshalb ist jeder Akt nur das Vorspiel zum nächsten. Und der instrumentalisiert die Lust wieder als Vorlust.

Die Verdammnis zum Interruptus wie zum Seriellen ist der doppelte Ausdruck des abgrundtiefen Misstrauens, das völlig zu Recht dem annoncierten sexukommerziellen Produkt entgegengebracht wird: "Post commercium omne animal tristissimum." Das ist die neue Probe auf das alte Syndrom von Paradiesverlust und Erkenntnis: "Und sie erkannten, dass sie nackt waren."

Unter diesen Umständen nahe liegend, dass es seit einiger Zeit Gegenbewegungen gibt. Die Wiederbelebung der Familie, der Rückweg zum Paar, die Reinthronisierung der Liebe, der Treue scheint so etwas wie eine sexuelle Restauration zu signalisieren. Aber der Impuls muss keineswegs immer konservativ sein. Alles das kann auch der - fast schon wieder subversiven - Allergie gegen die Allgegenwart des Sexuellen, einen förmlichen sexuellen Totalitarismus, gutgeschrieben werden. Nicht zu vergessen: Nach wie vor wird nach einem lebbaren Ausgleich zwischen Lust- und Realitätsprinzip, Trieb und Verzicht gesucht. Und vielleicht speist sich die neue sexuelle Selbstkontrolle aus einer uralten erotischen Einsicht: dass gerade die Lust am meisten der Pflege, der "Kultur" bedarf.

Alle hier anzuzeigenden Bücher sind von dieser Überzeugung bestimmt. Alle entgehen freilich genauso wenig wie diese Rezension dem Geschick, sich am ubiquitären Gerede über die Lust zu beteiligen. Das abendländische "Geständnistier" (Michel Foucault) hat seit je der exzessiven Lust zum sexuellen Bekenntnis gefrönt. Das vermeintlich Verschwiegene war immer in höchstem Maß beredt. Und die Leidenschaft für die rhetorische Askese ist auch unter gewandelten sexualmoralischen Bedingungen nicht größer geworden. Um so mehr sollte die Maxime lauten: "Was man wirklich lieben will, darüber müsste man eigentlich schweigen." Doch das kann wie bei dem verschwiegenen Erotomanen Wittgenstein allenfalls der Schlusssatz eines "Tractatus logico-eroticus" sein.

Vermutlich ist es kein Zufall, dass die plausibelste Auseinandersetzung mit dem zeitgenössischen Geschick der Lust in Frankreich erschienen ist: Jean-Claude Guillebauds "Tyrannei der Lust". Das Buch, mit seinen 480 Seiten ein eindrucksvoller Beitrag zum sexuellen Wortreichtum unserer Gesellschaft, plädiert für eine Subversion dieser Tyrannei, aber ohne auf eine rigide Verzichtpolitik zurückzufallen. Guillebaud sucht einen sexualliberalen mittleren Weg, wenn man so will: ein erotisches "juste milieu" zwischen Permissivität und Prüderie, Zügellosigkeit und Moral, sexueller Anarchie und konservativem Ordnungsdenken. Das Gegenbild ist ein Manichäismus, wie er in Fragen der Sexualmoral immer nahe liegt. Die aktuelle Illustration bieten die US-amerikanischen Verhältnisse, die die Obszönität präsidialer Pornographie mit einem beispiellosen Neopuritanismus vereinen.

Guillebauds Interesse ist auch nicht eigentlich moralisch, sondern von der "Sorge um sich", der Sorge um den Verlust der Lust im postmoralischen Zeitalter motiviert, wo die "Athleten des Orgasmus" die Szene beherrschen und wissenschaftlich seit nunmehr schon über fünfzig Jahren die "Eiszeit der Sexologen" herrscht. Von der verbotenen zur obligatorischen Lust, einer "Pflicht zur Lust", zur sexuellen Schwerstarbeit, zum Zwangsvergnügen hat die Entwicklung geführt. Wenn es eine List der sexualmoralischen Vernunft gäbe, so wäre es die fürwahr dialektische Rache der Moral am Fleisch durch penetranteste Erfüllung.

Ironischerweise wird die aggressiv sexualisierte Gesellschaft am meisten von der "Schreckensvision des Nichtbegehrens" verfolgt. In dieser Situation nähert sich Guillebaud sogar den Fragen Georges Batailles wieder an: Woher jetzt das Begehren nehmen und nicht stehlen, wo es die Sünde als Generator der Lust, den Akt der, den Akt als Überschreitung nicht mehr gibt?

In letzter Instanz handelt es sich indessen auch für Guillebaud nicht um psychologische Turbulenzen, sexualdiätetische Probleme im Überbau, sondern um den Parallelismus der sexuellen mit der sozialen und ökonomischen Entwicklung.

Der entfesselte Individualismus schlägt auch sexuell in Konformismus um. Das Werben der Liebe um Liebe weicht dem Wettbewerb auf dem sexuellen Markt. Leistungsfähig muss man sein, um konkurrieren zu können. Der mythische Paris verschenkt seinen Apfel heute nicht mehr nach seinem Gusto an die Schönste, vielmehr honoriert er, selber ein Designer-Produkt, mit seiner "designierten" sexuellen Prämie wieder ein Designer-Produkt. Ob Bett oder Markt, es herrscht der kategorische konsumistische Imperativ: "Genießt!" Hedonismus als gestylter, buchstäblich eingefleischter Kadavergehorsam.

Wo wäre da noch die Verheißung eines glücklicheren erotischen Lebens? Die Flucht in die Zukunft mag niemand mehr antreten. Zukunft und Sex, ja, gewiss. Aber Zukunft und Erotik? Da bleibt nur noch der Weg in die Geschichte oder die Exotik. Guillebaud wählt die Geschichte. In den materialreichen historischen Teilen seines Buches weiß er Unorthodoxes über die gar nicht so freizügige griechische und die unvermutet liberale mittelalterliche Gesellschaft zu sagen. Im übrigen steht seine Hoffnung eher zwischen den Zeilen: dass in den historischen Rhythmen von sexuellen Exzessen und den "Zeiten der Reinheit", zwischen der Tyrannei der Lust und der "eisigen Ordnung der Moral" das "Lager des (erotischen) Glücks" nicht völlig aussichtslos ist.

Verwandt die Intentionen des bemerkenswerten Buches von Giulia Sissa "Die Lust und das böse Verlangen." Die Philosophie mit der Psychoanalyse und der Neuropharmakologie verbindend, entwirft Sissa weit mehr als die "Philosophie der Droge", die der Untertitel ihres Buches annonciert. Sie nimmt die Drogensucht als Exempel für eine existentielle Philosophie des Verlangens, das nach 2000 Jahren eines christlichen "Platonismus fürs Volk" (Nietzsche) nur noch ironisch ein "böses" ist. Aber diese offene Tür muss man heute gar nicht mehr einrennen.

Heikler ein methodisches Problem. Die Philosophen sind eine Gilde gelernter Abstandhalter, zumindest nach ihrem Selbstverständnis eine Elite der Distanz - jener Distanz, die "Theorie" heißt. Wie lässt sich aber aus der Distanz eine authentische Innenansicht des Begehrens oder gar der Sucht gewinnen? Ein unlösbares Dilemma: Wer schreibt, ist seiner Sucht schon ge-, schon entwachsen. Wer aber wirklich süchtig ist, dem ist die Sucht allemal über den schreibenden Kopf gewachsen - es sei denn, das Schreiben wäre die Sucht. Die meist und auch von Sissa praktizierte Ausweichbewegung ist die, dass sich die Philosophie jenen Vergegenwärtigungs- und Innenansichtsspezialisten anvertraut, die sich Dichter nennen, zumindest jenen Autoren, die eine eigene Erfahrung haben. Deswegen verbindet Sissa Platon mit dem Kokainisten Freud, Augustinus mit dem Opiumesser Thomas de Quincey, Heidegger mit William Burroughs, Epikur mit Lacan und Christiane F. vom Bahnhof Zoo...

Wie weit die Drogensucht als Exempel für das Verlangen überhaupt dienen kann, steht dahin. Aber zwei wesentliche Charakteristika der Drogensucht können in der Tat das Modell wie freilich auch die Folie für eine philosophische Theorie des Begehrens abgeben. Schopenhauer, den Sissa leider nicht zu kennen scheint, ist der neuzeitliche Kronzeuge für die Verbindung beider Charakteristika. Das erste ist der im Sinn der philosophischen Tradition "negative" Charakter der Lust. Gemeint ist damit nicht, jedenfalls nicht direkt, eine Wertung, sondern der einen Mangel, eine Störung, einen Schmerz aufhebende Charakter der Befriedigung. "Positiv" ist in Analogie zum medizinischen Sprachgebrauch ein Befund, der eben diese Störung, diesen Mangel signalisiert und nach "negativer" Aufhebung verlangt. Insofern kann man Lust und "Schuss" gleichermaßen der "negativen" Befriedigung subsumieren. Bei der Droge, dem "Sorgenbrecher" par excellence, kippt die Befriedigung nur allzubald in erneuerte und gesteigerte Sucht, in die leere Zeit zwischen den "Schüssen" um.

Deswegen ist die Sucht, zweitens, unersättlich. Und eben die Unersättlichkeit ist auch der zentrale Einwand der lustfeindlichen Philosophie seit Platon gegen das "böse" Verlangen überhaupt. Aber das Begehren muss keineswegs immer Sucht sein, selbst wenn die Lust wie die Droge "negativ" verstanden wird. Sissa markiert im Zeichen der immer noch weit unterschätzten Philosophie Epikurs gegen Platon die Konturen einer nicht süchtig machenden, nicht versklavenden, sondern begrenzten, gerade deswegen befriedigenden, mit Freiheit kompatiblen und insofern sehr vernünftigen Lust. Platon ist der "terrible simplificateur", der schreckliche Gleichmacher, Epikur der anziehende Differenzierer im Reiche der Lust.

Dass auch die Lust Wiederkehr intendiert, obwohl nicht gleich wie bei Nietzsche die ewige, spricht keineswegs gegen sie, im Gegenteil. Wir essen, wir trinken, wir lieben mit Lust. Und wundersamerweise sind wir gelegentlich durchaus befriedigt. Lust kann - anders als es die jüngst revidierte deutsche Sprache wollte, der die "Unertränklichkeit" des Durstes eine ausgemachte Sache war - durchaus "sitt und satt" machen: die ersättliche Lust! Und wenn dann doch nach getanem Tag- und Nachtwerk zu unserer großen Freude das Verlangen wiederkehrt, ist das nicht Unersättlichkeit, sondern die wünschenswerte Bedingung der Möglichkeit für die Erneuerung der Lust.

Zwischen Sucht und Askese sucht deswegen auch bei Sissa eine kluge Lustphilosophie, die sich am meisten von den nichtplatonischen Weisheitslehren der Antike inspirieren lässt, ihren "mittleren Weg". Nur plausibel, dass sie für das "Realitätsprinzip als Lustprinzip für Erwachsene" plädieren kann. Sex als Sucht aber ist nichts anderes als die Inversionsform der Askese, die es in selbstverursachter Lustfolter nach dem nächsten Schuss verlangt.

Trotz der Korrekturen, die Guillebaud am Bild der Antike vornimmt, gibt sie offenbar immer noch das humanste, klügste Modell für den "Gebrauch der Lüste" ab, gleichweit vom christlichen Sex-Sünde-Syndrom wie von der Tristesse süchtigen Wiederholungszwanges entfernt. In ihrem Zeichen könnte sich eine Renaissance der Liebeskunst, eine neue "ars amatoria" andeuten. Der englische Althistoriker James N. Davidson zeichnet in einem Buch, dessen Titel "Kurtisanen und Meeresfrüchte" dem Lustappeal frönt, um im Untertitel den im doppelten Sinn "verzehrenden Leidenschaften" (Essen, Trinken, sexuelles Begehren) seinen Tribut zu entrichten, ein lebensvolles, differenziertes Bild der Antike. Leider ist das sonst schöne Buch durch die absurde Transkription des griechischen Eta in ein c mit Cédille (() verhunzt. Wer noch Lust an Büchern hat, wird unter dieser graphischen SM-Tortur leiden. Entweder keine griechischen Termini oder die richtigen.

Vor allem die verzehrende Leidenschaft für Fisch hat es Davidson angetan, kein Kuriosum, sondern ein überaus aufschlussreiches Exempel für eine "politische Geschichte athenischer Begierden", zum Beispiel für das "Sonderrecht des Tyrannen auf den besten Fisch vom Markt". Als eigentlicher Tyrann entpuppt sich freilich die Fischsucht selber, ein förmlicher Fisch-Exzess, dessen sexuelle Konnotationen sich unschwer einstellen. Die "Furie des Begehrens" statt der Hegelschen "Furie des Verschwindens" lässt den Gebrauch der verzehrenden Lüste mit der Fischsucht sozusagen aus dem Ruder laufen.

Der übermächtige Einfluss von Michel Foucault ist bei Davidson wie bei fast allen hier erwähnten Autoren spürbar. Aber noch Foucaults scheinbar so radikale Diskurskritik wird christlicher Präokkupationen überführt. Zum Beispiel will es Davidson partout nicht einleuchten, dass das Verhältnis von Penetrierendem und Penetriertem, zumal wenn es dorsal praktiziert wird, immer ein erniedrigendes Herrschafts-, nie ein wechselseitiges Lustverhältnis signalisieren soll. Sehr dezidiert auch die Kritik an einem anderen Klassiker, Thorstein Veblens "Theory of the leisure class". Davidson kehrt im Gegensatz zu Veblens Theorie des "demonstrativen Konsums" für Athen das Verhältnis zwischen Klasse und Konsum um: Der wirklich vornehme Mensch beherrscht seine Begierden. Wer ihnen frönt und das auch noch exhibitioniert, zeigt, dass er Sklave der Lüste ist, auch wenn er zu den Herren gehört.

Dass Analverkehr und soziale Gleichstellung einander nicht ausschließen müssen, lässt sich auch aus dem "Babylonischen Liebesgarten" des Altorientalisten Volkert Haas lernen. Aber Spaß beiseite! Sex als Thema ist immer gut, selbst Orchideenfächer können damit ihren Vitalitätsüberschuss dokumentieren. Ja, während sonst global der Kulturrelativismus grassiert, gewährt uns der Sex die wahre, die einzige, die verheißungsvollste Universalie: sozusagen als Naturalie. Auf das umfassendste handelt Haas "Erotik und Sexualität" im Reich des "Sündenbabels", der "großen Hure Babylon" ab. Das Buch hat allerdings auch etwas von dem spröden Charme sexualhistorischer Buchhalterei.

In gewissem Sinn ebenfalls buchhälterisch Sudhir Kakars Roman "Kamasutra oder die Kunst des Begehrens". Kakar, renommierter indischer Psychoanalytiker, Dozent in Harvard, Wien, Princeton, Träger der Frankfurter Goethe-Medaille, erzählt die Lebensgeschichte von Mallanaga Vatsyayana, der wahrscheinlich im 3. Jahrhundert das "Kamasutra" schuf, das "Hohe Lied" des sinnlichen Glücks im hinduistischen Indien. Berichtet wird aus der Perspektive des ersten Jüngers und Kommentators, zugleich desjenigen, der nach den Gesetzen einer unter Wiederholungszwang stehenden ödipalen Inszenierung mit der Frau Vatsyayanas die Ehe bricht.

Das Kamasutra hat als gänzlich missverstandener Hindu-Porno inzwischen den Weg in die Nachttischschubladen deutsch-bürgerlicher Liebes- und Meditationsgemeinschaften gefunden. Und gewiss nötigen die 64 Arten der Liebe, vulgär "Positionen" genannt, westlichen Lustinvaliden, die Erotik mit Gymnastik verwechseln, die verdiente Bewunderung ab. Man denke nur an die eingangs erwähnten TV-Exerzitien, die es zumeist auf die erregende Zahl von 4 (in Worten: vier) Liebesarten bringen.

Aber man vergisst bei Kakar keinen Moment, dass es auf die Kunst des Begehrens ankommt, die so sehr Kunst ist, dass der Autor des Kamasutra selber kaum eine sinnliche Erfahrung hat, mit seiner geliebten Frau gar keine. Das ist Kakars Variation auf die (vielleicht allzu-) vertraute Paradoxie, dass, wer schreiben kann, nicht erleben muss; wer aber nicht erleben kann, muss um so mehr schreiben.

Der klassifikatorische Geist des Ostens mit seiner ausgeprägten Neigung zu inflationärer Zahlenmystik kennt am allerwenigsten in Liebesdingen Pardon. Bei Kakar ist freilich ein sehr lesbares, anziehendes Buch daraus geworden. Trotz aller Neigung zur Sublimation, die ihrerseits zum Exzess werden kann, ist der Roman von keinerlei Berührungsangst geprägt. Nichts sexuell und erotisch Wissenswertes ist diesem neuen wie dem alten Kamasutra fremd, weder besagte 64 Liebesarten, deren favorisierte Vatsyayana den Ruf eines hartnäckigen Oralisten eingetragen haben, noch seine anatomische Typologie der Geschlechter, nach welcher der Hase-, der Stier- und der Hengsttyp tunlichst auf den Gazellen-, den Stuten- und den Elephantentyp trifft. Aber man merke auf: Wo der zwanghafte westliche Fetischismus auf schiere Größe und Enge setzt, weiß der Osten: Auf die Harmonie der Entsprechungen kommt es an! Es ist also Hoffnung.

Manchmal läuft Kakar Gefahr, erotische Art déco, sexuelles Kunsthandwerk zu liefern. Aber das wird durch eine eigentümliche Verbindung von Sensitivität, Unerschrockenheit und Nüchternheit balanciert. Und die Struktur eines letzten Endes tragischen Romans lässt keinen Gedanken daran aufkommen, dass man es mit einer Anleitung zum schöneren Lieben zu tun hätte.

In ein lebendiges imaginäres Museum führt schließlich ein kunsthistorisch sorgfältig, bibliophil schön gemachter Band, der als Katalog für eine Ausstellung zunächst in Tokyo, dann im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe konzipiert worden ist: "Rhetorik der Leidenschaft". Anhand von druckgraphischen Leihgaben vor allem aus den singulären Renaissance-Beständen der Wiener "Albertina", dazu der Hamburger Kunsthalle, wird die "Sprache des Körpers" dargestellt, ein Projekt, das in produktiver Spannung zu jenem rüden Materialismus, ja Korporalismus steht, der heute die medizinwissenschaftlichen Exhibitionen der "Körperwelten" beherrscht, zu schweigen vom gynäkologischen oder andrologischen Blick der Pornographie auf die Sexualorgane.

Die Wiederentdeckung des Körpers durch die Renaissance ist auch die Wiedergeburt des noch nicht segmentierten, weder gefolterten noch ins Himmelblassblaue verdampften christlichen Körpers. Guillebauds doppelter Revisionsversuch in Bezug auf die Sexualhistorie der Antike und des Mittelalters wird hier doch wieder um einiges zurechtgerückt. Von der Rehabilitation des antiken Körpers durch die Renaissance her lässt sich auch besser begreifen, wie Pornographie, christliche Sexualmoral und eine strikt naturalistische Anatomie zusammenhängen. Pornographie wirft denselben, nur als Lust verkauften Blick auf den Körper, den der christlich böse Blick einst auf das Tier im Menschen, das innere Schwein, geworfen hat.

Besondere Signifikanz gewinnt der Band durch zwei charakteristisch divergierende Sammlungen: Johann Caspar Lavaters "physiognomische Fragmente" und die kunsthistorischen und kunstpsychologischen Tafeln Aby Warburgs. Lavater will den abgründig vieldeutigen Gesichtern, der Sprache der Körper eine "apollinisch" vergeistigte christliche Lesart abgewinnen. Das "zum Sprechen gebrachte Gesicht" verdankt seine Lesbarkeit freilich nach der Deutung Lichtenbergs auch einer "physiognomischen Raserei", die das Gesicht sozusagen "auf die Folter spannt". Da ist Lichtenbergs virtuose Hermeneutik der Körperteile in seinem parodistischen "Fragment von Schwänzen" doch um einiges menschen- und leibfreundlicher.

Warburg rekonstruiert mit seinen Bildtafeln, seinem Atlas "Mnemosyne" auf eindrucksvolle Weise ein von Nietzsche inspiriertes apollinisch-dionysisches Seelendrama, in dem sich die Kunst die Leidenschaften "einverseelt", um zugleich nach der Distanzierungs- und Befreiungsästhetik Schopenhauers so weit auf Abstand zu gehen, dass ein ganzer "Denkraum" zwischen dem Trieb und dem obskuren Objekt der Begierde, auch zwischen der Angst und dem Schrecken liegt. In der Aneignung der "Pathosformeln der Antike", dieser "Superlative der Gebärdensprache", durch die Renaissance vollzieht sich diese Doppelbewegung in potenzierter Form: Einverseelung, Einverleibung und Distanzierung zugleich durch das ikonographische Zitat.

Einschneidender könnte der Unterschied zur Gegenwart nicht sein: Warburg sucht die Distanzierung durch das Bild - was heute im Angesicht der sexuellen und kommerziellen Idolatrie nötig wäre, ist die Distanzierung vom Bild. Denn es herrscht die Distanzlosigkeit des Bildes. Dass die Körper sprechen und dabei nicht immer nur das eine sagen, ist für eine auf den sexuellen Korporalismus geschrumpfte Aktualität, die das Stöhnen der Lust für den Inbegriff eines erotisch elaborierten Codes hält, wahrscheinlich das unverständlichste Zitat.

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Volkert Haas: Babylonischer Liebesgarten. Erotik und Sexualität im alten Orient.
Verlag C.H.Beck, München 1999.
206 Seiten, 20,30 EUR.
ISBN-10: 3406453430

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Giulia Sissa: Die Lust und das böse Verlangen. Eine Philosophie der Droge.
Übersetzt aus dem Französischen von Christine Schunitz.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 1999.
254 Seiten, 30,20 EUR.
ISBN-10: 3608919171

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Jean-Claude Guillebaud: Die Tyrannei der Lust. Sexualität und Gesellschaft.
Luchterhand Literaturverlag, München 1999.
480 Seiten, 25,50 EUR.
ISBN-10: 3630880002

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Sudhir Kakar: Kamasutra oder die Kunst des Begehrens.
Verlag C.H.Beck, München 1999.
358 Seiten, 22,50 EUR.
ISBN-10: 3406449530

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James N. Davidson: Kurtisanen und Meeresfrüchte. Die verzehrenden Leidenschaften im klassischen Athen.
Übersetzt aus dem Englischen von Gennare Ghirardelli.
Siedler Verlag, Berlin 1999.
354 Seiten, 25,50 EUR.
ISBN-10: 3886806510

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Ilsebill Barta-Fliedl / Christoph Geissmar-Brandi / Naoki Sato (Hg.): Rhetorik der Leidenschaft. Zur Bildsprache der Kunst im Abendland.
Dölling und Galitz Verlag, Hamburg / München 1999.
256 Seiten, 25,10 EUR.
ISBN-10: 3933374332

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