Nahe am Abgrund

Antonio Lobo Antunes' Familientragödie "Der Tod des Carlos Gardel"

Von Katharina IskandarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Katharina Iskandar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist eine Familiengeschichte von zerstörerischer Wucht. Gleich einer tosenden Welle schlägt sie zu und macht die Protagonisten gleichsam zu ertrinkenden Opfern. Die Gischt ist die Pein. Antonio Lobo Antunes lässt in seinem Roman "Der Tod des Carlos Gardel" eine ganze Familie in menschliche Abgründe blicken: mit einer Intensität, die schockiert - die aber auch zeigt, wie sich das Leben in schleichende Depression verwandeln kann.

Im Mittelpunkt steht der Tod. Es ist Nuno, der Sohn von Claudia und Álvaro. Er stirbt an einer Überdosis Heroin. Mit einer Vorsichtigkeit, die von Respekt vor dem Tod zeugt, zugleich aber auch mit einer ungeheuren Energie, enthüllt Lobo Antunes die Vorgeschichte, die zum Tode von Nuno geführt hat. Er lässt sie sprechen, die Personen, die dem Toten nahe standen: die Eltern, Nunos Tante, ihre Lebenspartnerin, seinen Großvater, sogar das Hausmädchen. Stück für Stück entfaltet er das tragische Ereignis, das sich über so viele Jahre angekündigt hat. Behutsam, intensiv, wie ein gemeißeltes Kunstwerk, dem die Schichten abgetragen werden, damit darunter das wahre Kunstwerk zutage kommt.

Schließlich spricht auch Nuno selbst. Erinnert sich an seine Kindheit, die geprägt ist von der Scheidung seiner Eltern, von immer neuen fremden Personen, die in sein Leben traten und von nun an sein Leben beherrschten. Solange, bis er schließlich in die Scheinwelt der Drogen flüchtete, in der sein Schmerz nicht mehr existierte.

"Jahrelang war mein Vater für mich nicht mein Vater, er war eine Stimme, die aus den Lautsprechern kam und alles aufhob, alles auslöschte, alles zerstörte, eine Stimme, die verstummte und wieder begann und wieder verstummte [...]. Ihm war es egal, genauso wie es meiner Mutter egal war, daß ich allein blieb, im leeren Kühlschrank, in den leeren Schubladen, in der Keksdose nach Essen suchte - Ihr liebt mich nicht".

Es liegt eine Anklage in dem Werk von Antonio Lobo Antunes, der neben José Saramago als bedeutendster Schriftsteller Portugals gilt und viele Jahre als aussichtsreicher Kandidat für den Literatur-Nobelpreis gehandelt wurde. Eine Anklage, die nicht nur allein darin besteht, dass Nuno, das Kind, zum Opfer zweier Menschen geworden ist, deren Leben einem Verwesungsprozess gleicht, sondern vor allem in der erschütternden Tatsache, dass Menschen auch ihre dunklen, absurden, unberechenbaren Seiten haben, die erst dann offen ausgesprochen werden, wenn die Katastrophe gleich einer Sintflut eingetreten ist, wenn alles zu spät ist.

Gegenwärtig bleibt die Frage nach dem Warum. Die Monologe der einzelnen Personen gelten als Schlüssel für diese Frage. Sie alle haben ihre eigene Geschichte, die jedoch stets so nah am Abgrund liegen, dass es bisweilen erschreckt. Schritt für Schritt lässt Lobo Antunes, der lange Zeit als Chefarzt am Lissaboner psychiatrischen Krankenhaus Miguel Bombarda gearbeitet hat, ahnen, woran die Figuren leiden. Und auch, warum es letztlich zur Tragödie kam.

Und so stellt Lobo Antunes die Leidenschaft Álvaros für den Tangosänger Carlos Gardel in den Vordergrund, der sich wie ein Leitfaden durch den Roman zieht und in einer Reihe von Konsequenzen für Nunos Tod verantwortlich gemacht wird. Álvaro flüchtet sich in diese glamouröse Welt des Mannes mit der Brillantine und den angemalten Lippen. Will dem entkommen, was er längst schon ahnt: dem Unglück, das sich über seinem Leben zusammenbraut, der schicksalhaften Kette von Ereignissen, die mit der Scheidung von seiner Frau Claudia und der rückblickenden Auseinandersetzung mit seinem eigenen Vater begonnen hat und mit dem Tod Nunos schließlich endet.

"Und ich begann Cellos klagen zu hören, ein blutendes Akkordeon zu hören, und es war nicht mein Sohn, der sich in einen Sarg legte, sondern der Herr mit der Brillantine und den angemalten Lippen" erinnert sich Claudia später, "und dem Lächeln eines gefallenen Engels".

Titelbild

António Lobo Antunes: Der Tod des Carlos Gardel.
Übersetzt aus dem Portugiesischen von Maralde Meyer-Minnemann.
Luchterhand Literaturverlag, München 2000.
448 Seiten, 24,50 EUR.
ISBN-10: 3630870627

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch