Jenseits der Oppositionen

Johanna Bossinades Einführung in die poststrukturalistische Literaturtheorie

Von Waldemar FrommRSS-Newsfeed neuer Artikel von Waldemar Fromm

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Johanna Bossinade gliedert ihre Einführung in die poststrukturalistische Literaturtheorie in drei Kapitel. Das erste Kapitel, "Historischer Teil" genannt, skizziert Vorläufer, Herkunft, Ausprägung, Wirkungsfelder und Weiterentwicklungen der poststrukturalistischen Ansätze. Sie umreißt kurz die Entwicklung des Strukturalismus sowie die Übergänge zum postrukturalen Denken und markiert die politischen Einsatzpunkte der Kritik am Strukturalismus. Bossinade ruft die wichtigsten Entwicklungsstationen und mit ihnen die wesentlichen theoretischen Stichworte auf: vom Ziel einer nicht-repräsentativen Schrift bis hin zum Ende der großen Erzählungen. Sie versäumt nicht, die relevanten Kritikpunkte zu erwähnen. Der umfassendste Teil dieses insgesamt kleinsten Kapitels des Buches zeichnet die Rezeption des Poststrukturalismus in der bundesrepublikanischen Germanistik nach.

Das zweite Kapitel, "Theoretisch-Systematischer Teil" genannt, führt zunächst in die Grundlagen von Strukturalismus und Poststrukturalismus ein. Die Autorin setzt sich mit Saussures "Cours" auseinander und verweist u. a. auf ein häufig anzutreffendes Missverständnis bei den Begriffen Bezeichnendes/Bezeichnetes: Lautbild und Vorstellung, nicht aber Wort und Sache sind gemeint. Diese Einführung in die Grundlagen ist nicht zuletzt deshalb wichtig, weil gezeigt wird, warum sich sowohl Strukturalismus als auch Poststrukturalismus auf Saussure beziehen können. In den folgenden Abschnitten gelingt es Bossinade, präzise auf die spezifisch literaturtheoretischen Aspekte der neueren Ansätze einzugehen, ohne den Gesamtrahmen der einzelnen Positionen aus den Augen zu verlieren. Sie stellt die theoretischen Ansätze von Jacques Lacan, Julia Kristeva, Jacques Derrida, Michel Foucault unter besonderer Berücksichtigung ihrer Sprachkonzepte vor, arbeitet die Unterschiede zwischen ihnen heraus und zeigt die Reichweiten der einzelnen Ansätze. Bei der Darstellung der Textkonzepte erweitert sie den 'Autorenkanon' durch Roland Barthes, Luce Irigaray und Hélène Cixous.

Weitere wichtige Abschnitte des zweiten Teils dienen der Präsentation von Intertextualitätskonzepten, der Metapher und dem Symbol. Bossinade beginnt den Abschnitt zur Metapher didaktisch geschickt mit Aristoteles' Metapherntheorie und leitet dann über zu Gerhard Kurz' Typisierung der Metapherntheorien. Diese Vorgehensweise erleichtert nun die Erläuterung der zentralen Rolle der Metapher bei Lacan, Kristeva, Derrida und Paul de Man. Letzterer wird dadurch, dass er lediglich an dieser Stelle vorgestellt wird, in seiner Rolle für das poststrukturale Denken zu sehr marginalisiert.

Die im zweiten Teil dargestellten Textmodelle verlangen eigenständige Lesarten, denen sich die Verfasserin im dritten Kapitel, dem "methodologischen Teil", unter den Leitbegriffen von "écriture-lecture" zuwendet. Sie skizziert die Kritik hermeneutischer Interpretationsmodelle und zeigt die Relevanz von Lektüren auf, in denen die verschiedenen Ansätze gegeneinander abgewogen werden. Gemeinsam ist den Lektüremodellen von Barthes, Derrida und Foucault die Annahme, dass kein "Ich-Subjekt" den Text determiniert - gemeint ist mit dem verunglückten Begriff die Annahme eines Autors mit einer spezifischen Intention. Bei Barthes betont die Autorin den Vorrang einer textuellen Lektüre, die Markierungen vornimmt, "ohne auf ein textunabhängiges Ich zu rekurrieren". Derridas "disseminale Lektüre" wird anhand der Schrift über die Dissemination und im Kontrast zu einer hermeneutischen Lektüre erläutert, die auf der Annahme von Polysemie beruht. Bei Foucault registriert Bossinade den Abstand des Autors zur Germanistik und schildert die archäologische Methode. Bei Kristeva zeigt die Verfasserin, wie Literaturwissenschaftler literarische Texte auf derselben Ebene ansiedeln können wie die Texte darüber und der wissenschaftliche Kommentar dadurch als Ergänzung der skripturalen Praxis gebraucht und aufgefasst werden kann. Lacans Lektüremodell beruht nach Bossinade darauf, von den 'Schnitzern' im Text aus zu lesen, auf jeden Fall müsse nach Lacan von einer anderen als der mitgeteilten Bedeutung ausgegangen werden. Der letzte Abschnitt des dritten Teils, "Dekonstruktion (Derrida)" überschrieben, täuscht über den tatsächlichen Inhalt hinweg: es ist eher als Fazit denn als Darstellung des Derrida-Lesemodells gehalten.

Bossinade betont einen kritischen Ansatz des Poststrukturalismus. Ohne dass es explizit wird, scheint sie in den nicht referierenden Passagen die poststrukturalen Ansätze von der Kritischen Theorie aus zu rezipieren und weiterzudenken. Wenn Literatur als das "Gedächtnis für das Verdrängte der Sprache" verstanden wird, werden die Möglichkeiten der Subjekte unterschätzt, mit Sprache umzugehen. In dieser Formulierung sind Bücher Teil eines kulturellen Verdrängungswettbewerbes, der Mit- und Nachwelt und vor allem Germanisten dazu übergeben, das Verdrängte darin aufzufinden. Avancierte Ästhetiken und Poetiken gehen aber bezüglich der Freiheitsgrade ästhetischer Subjektivität weit über einen solchen Ansatz hinaus, was nicht zuletzt Bossinade selbst beschreibt. Weiterhin ist die Formulierung von der Literatur als Gedächtnis für das Verdrängte selbst schon Teil einer Opposition, die der Poststrukturalismus hintergehen will. Man kann Bossinade zustimmen, wenn sie kulturkritisch Literatur unter der Perspektive des Verdrängten verstehen will, doch scheinen die verschiedenen Wendungen im Buch immer eine Opposition zu implizieren: das Verdrängte, Verheimlichte steht dem Nichtsanktionierten der kulturellen Praxis entgegen. Eine derart ausdrückliche Formulierung findet man in der Einführung nicht, dennoch bildet sie als oppositionelles Paar den Rahmen der Lektüre ab. Insgesamt aber ist die Einführung kompetent und kompakt geschrieben. Sie sei jedem dringend ans Herz gelegt, der sich in das Thema einarbeiten möchte.

Titelbild

Johanna Bossinade: Poststrukturalistische Literaturtheorie.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2000.
180 Seiten, 12,70 EUR.
ISBN-10: 3476103242

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