Engel über Berlin

Bianca Dörings manierierte Berlinromanze

Von Mona DenzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mona Denzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie ein Engländer durch New York, besungen in Stings "Legal Alien", läuft Bianca Dörings Hauptfigur Elli Luzo durch Berlin, wird überwältigt von den Eindrücken in der Metropole, die in ihrer Fantasie farbenstarke Feuerwerke auslösen.

Nach der Flucht aus ihrem Heimatdorf findet sich Elli in einem Berliner Dom wieder, umgeben von Stuckengeln, die in ihrem Kopf lebendig werden und fortan ihre treuen Begleiter in der Achterbahnfahrt durch die Hauptstadt sind. Durch Impulse getrieben, auf der Suche nach Geld und Unterkunft, führt Ellis Weg durch chrombleiche Szene-Cafés und wüste VIP-Partys, die ihrer Fantasie eine bildreiche Kulisse bieten.

Durch die Bekanntschaft mit der großherzig-großstädtischen Tilda und dem Verzweiflungsträumer und Pianisten Willy findet Elli einen Einstieg in die flirrende Großstadtwelt. Willy engagiert sie als Sängerin und versorgt sie finanziell, Tilda wird zur Nachfolgerin ihrer Jugendfreundin Luise und nimmt die Rolle der mütterlichen Beraterin ein.

Eine surreale Jagd nach Liebe beginnt in dem Moment, als Elli auf Luc trifft. Sie ist angetan von seinen "Bernsteinaugen" und erhebt ihn zum Objekt ihrer Begierde, so dass sie seiner "Yeti-Erscheinung" durch den "Himalaya" der Stadt manisch folgen muss.

In der feucht-warmen Hitze des botanischen Pavillons im Britzer Garten, zwischen Pflanzen, Raupen und Schmetterlingen, gelingt in Ellis bunt-verrutschter Wahrnehmung ein Kuss. Eine Schlüsselszene, in der die Ebenen zwischen Illusion und Wirklichkeit assoziativ ineinander greifen. Bis zum letzten Wahrnehmungsfeuerwerk der eingebildeten Liebe, einer Hochzeit mit ihrem Luc, lässt sich Elli durch die "Papphäuser" und Straßen Berlins gleiten, wird heimatlos, übernachtet in Schwimmbädern, zwischen Hausecken und in Kneipen.

Alt ist die Vorstellung, ein fremdes Wesen komme auf die Erde und schaue sich das bunte Treiben an. Neu ist hingegen der Ton, der den fremden Blick in Sprache fasst. Elli, das kleine "Alien" vom Lande, besingt Berlin samt dessen Inventar. Der Leser erfährt eine Menge über die Erlebnisfähigkeit von Dörings Hauptfigur, durch deren neugierige Augen die Autorin die Stadt abwechselnd heranzoomt und von Ferne betrachten lässt, so dass der Eindruck einer bizarren Kamerafahrt entsteht, die mit austauschbaren Objektiven das pulsierende Berlin im Jahr 2000 zu fassen versucht.

In der Wahrnehmung verschmilzt die Hauptfigur Personen, Zeit- und Raumstrukturen. Die sorgende Busenfreundin Luise, mit der Elli in ihrem Heimatdorf am Samstagabend "Dörfer aus dem Dung hebeln" konnte, vermischt sich mit Tilda. Während der Erzählung werden ihre Stimmen und Gesichter immer ähnlicher. Durch die Personenüberschneidung zum Doppelwesen überlagern sich Erinnerung und Gegenwart.

Ebenso geschieht's mit den Männern. Unter Alkoholeinfluss wird Willy zu Luc. Technisch gelöst wird die Verschmelzung in diesem Fall durch die Farbe von Whisky, den sich die Hauptfigur von Willy einflößen lässt. Das "flüssige Bernstein" erinnert sie an die Augenfarbe ihres Angebeteten und mit zunehmendem Alkoholrausch gleichen sich die Männer schließlich an.

Den Hochofen von Ellis Wahrnehmung lässt Döring brennen, indem sie der Figur neben dem Alkoholrausch auch noch die Schlaflosigkeit beschert: Schrittmacher ins assoziative Abenteuer. Der fremde Blick eines "Alien" entsteht durch gehäufte Perspektivwechsel zwischen erster und dritter Person, z. B. schaut sich Elli von fern zu, als ein "Überraschungspäckchen aus dem Alien-Maul purzelt." Die Großstadteindrücke bewirken einen Mitteilungsdrang, der sich in Form eines mäandernden Dauergesprächs äußert. Elli redet ständig, mit jedem, eingeschlossen sich selbst und der Engel. Jedoch werden hinter dem Gerede die Charaktere der Gesprächspartner zu Parkuhren. Tilda, Luise, Willy, Elli verschwimmen hinter einem liebevoll-lieblich lullenden L-Sound und übrig bleibt die Melodie der Sprache.

Döring lässt selbst die Tage nicht im Passiv stehen. Nicht Figuren verbringen die Tage, sondern Tage "legen laut und eilig los mit sich", bekommen menschlichen Tatendrang. Zeit schiebt sich "unaufhaltsam voran, wie ein schwerer heißer Lavastrom, und gerinnt zu den erstaunlichsten Gebilden, und das einzige, was man tun kann, ist sie anzuschauen und sich einzuprägen." Ab und an hält die Zeit inne, dann wird es leise im Roman, dann träumt sich Elli in einen Kokon, wie ein Schmetterling im Britzer Garten, wie die Engel im Dom, und es wird so still, "dass die Stille in den Ohren knallt."

Bianca Dörings Sprachbilder sind stark. Sie erinnern an Ludwig Meidners Großstadtgemälde von 1913 und expressionistische Großstadtliteratur von Alfred Döblin und Georg Heym. Materialgrenzen heben sich auf, Häuserwände aus Glas werden zu Wasser. Durch Vergleiche werden Räume verschiedener Herkunft zusammenmontiert, etwa wenn "Sätze durch den Kopf fallen, wie Lianen im Tacheles von der Decke." In diesem Ton versucht die Autorin den Eindrücken gerecht zu werden, das wummernde Chaos einer Metropole zu fassen. Sie findet eine Sprache, in der Sehnsucht und Bedrohung zeitgleich reden dürfen. Sehnsucht nach Berlin mitten in Berlin? Der Schlussakkord klingt beinahe pantheistisch. Beim Blick in den Spiegel einer Schaufensterscheibe überkommt Elli eine Form der Selbsterkenntnis, die sich im Fantasma der Verschmelzungen von Zeit-, Ort- und Figurendarstellung längst abgezeichnet hat: "träume schlafe schlafwandle ich, lebe oder irre ich, was habe ich denn gefunden, habe ich etwas gefunden? Habe ich es verloren? Und jetzt, wohin soll ich gehen, wohin denn noch?" Angekommen in Berlin Mitte, den Siegesengel greifbar nah, sitzt Elli in einer Hochhauswohnung und ist doch nicht angekommen, weil im Mythos schlecht anzukommen ist. Nur eine Annäherung an die Hauptstadt funktioniert und diese ist vielleicht schöner als die Realität.

Titelbild

Bianca Döring: Little Alien.
dtv Verlag, München 2000.
235 Seiten, 14,30 EUR.
ISBN-10: 3423242205

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