Exzentrische Irrtümer

Kersten Schüßler verfolgt Helmuth Plessners intellektuelle Biographie

Von Jan MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit einigen Jahren werden vermehrt Denker und philosophische Richtungen wieder entdeckt, denen man längere Zeit kaum Beachtung geschenkt hatte. Ein prominentes Beispiel dafür ist die philosophische Anthropologie. Ihr Hauptvertreter Helmuth Plessner erfreut sich einer Renaissance, deren Höhepunkt jüngst die Gründung einer Plessner-Gesellschaft im Jahr 1999 in Freiburg markierte.

Mit ihrer Beschreibung der philosophischen Lebensgeschichte Plessners möchte Kersten Schüßler einen Beitrag zu diesem neu erwachten Interesse leisten. Die Autorin folgt dem "Exzentriker" Plessner seit seinen ersten, ungewöhnlichen philosophischen Gehversuchen. Der Zoologiestudent aus einem zum Protestantismus konvertierten jüdischen Medizinerhaushalt wird schon in seinen ersten Semestern derart von der Phänomenologie Schelers und dem Neukantianismus Rickerts fasziniert, dass er das Studienfach wechselt. Die Beschäftigung mit der Geschichts- und Sozialphilosophie Diltheys und Troeltschs trägt wesentlich zur Entwicklung seines eigenen Stils bei. In seiner Erweiterung der zu jener Zeit populären "Lebensphilosophie" zeigen sich inhaltliche Grundlinien, die das Lebenswerk Plessners durchziehen: die Vermittlung von Biologie und Philosophie in dem Bewusstsein, dass alle Philosophie politisch ist. Dieser Besonderheit widmet Schüßler ihr Hauptaugenmerk. In jedem Werk Plessners analysiert sie umsichtig und im ständigen Rückgriff auf zeitgeschichtliche Ereignisse sein bemerkenswertes liberales Politikverständnis.

Das gerät nicht immer zum Besten der eigentlichen philosophischen Aussagen. So erscheint Plessners erste wirklich originelle Schrift "Die Einheit der Sinne" von 1923 neben einem Jahre zurückliegenden Intermezzo Plessners im Erlanger Studentenrat fast nebensächlich. Viel eher interessieren Schüßler die zahllosen Zeitungsartikel und Kommentare, die Plessner zu dieser Zeit zum politischen Tagesgeschehen und zur politischen Bildung verfasste. Einige der unzähligen kleinen Aufsätze aus allen Schaffenszeiten Plessners wirken wie im Nachhinein eingefügt, um die Fülle des berücksichtigten Materials zu demonstrieren.

Als Plessner 1920 in Köln promoviert und als Privatdozent Anstellung findet, nehmen seine Kollegen ihn und seine originelle Verquickung von Philosophie, Biologie und der noch jungen Soziologie nicht recht ernst. Seine ersten Arbeiten zu einer philosophischen Anthropologie, die um eine Vermittlung von Körper und Seele in einer Sphäre der gesellschaftlichen Mitwelt kreisen, werden von Max Scheler und Arnold Gehlen, den Konkurrenten im selben Feld, wie auch von der Autorin kaum beachtet.

1924 zeigt Plessner die "Grenzen der Gemeinschaft" auf. Der Untertitel verspricht eine "Kritik des politischen Radikalismus", der die Weimarer Parteienlandschaft beherrscht. Unter dem Eindruck der drohenden Krise formuliert Plessner eine "Lebensphilosophie des Mittelmaßes" als Gegenentwurf zu den Heilsversprechen linker und rechter Gemeinschaftsideologien. Er stellt ihnen die maßvolle Vermittlung zwischen der Sphäre des von Distanz und Respekt geprägten Gesellschaftlichen und der Unmittelbarkeit der Gemeinschaft entgegen. Nur eine liberale Demokratie, die Plessner sich in Anlehnung an Max Webers "charismatischen Führer" als von einer "geistigen Elite" geführt denkt, könne die Stabilität und Weltoffenheit sichern, die der Weimarer Republik fehlt.

Diese Notwendigkeit zu taktvollen, toleranten Umgangsformen einer Gesellschaft findet ihre anthropologische Fundierung in Plessners Hauptwerk "Die Stufen des Organischen und der Mensch" von 1928. Drei "Anthropologische Grundgesetze" bestimmen demzufolge das Menschsein. Dem zweiten "Gesetz der exzentrischen Positionalität" entnimmt Schüßler das Leitmotiv ihrer Charakterisierung Plessners. Er selbst verwendet es zur Formulierung des Gesetzes vom "utopischen Standpunkt": Erst der Vollzug eines Lebens auf seine Möglichkeiten hin macht den Menschen zum Menschen; "Offenheit" ist das eigentliche Grundmerkmal des in sich utopischen Menschen.

Viel Glück hat Plessner jedoch mit diesen erfrischend neuen Gedanken nicht. Vom Konkurrenten Scheler ignoriert und des Plagiats verdächtigt, geht das Buch in dem Sturm unter, den Martin Heideggers "Sein und Zeit" zur selben Zeit in der philosophischen Landschaft entfacht.

Heideggers innovative Existenzialanalyse fasziniert auch Plessner. Unter ihrem Eindruck und in der Auseinandersetzung mit dem konservativen Staatsrechtler Carl Schmitt veröffentlicht Plessner 1932 "Macht und menschliche Natur. Ein Versuch zur Anthropologie der historischen Weltansicht". In einer Verknüpfung seines Menschenbildes der Offenheit und der Schmitt'schen "Macht zur Dezision" artikuliert Plessner seine Enttäuschung über die von Krisen geschüttelte Weimarer Republik. Schüßler interpretiert diese Annäherung an die Vordenker des Faschismus als den Versuch, mit einer "Zivilisierung des Machtbegriffs das gebildete Bürgertum" aufzurütteln. Plessner träume "von einem Deutschland als Mittler zwischen den in Europa aufkommenden Diktaturen und den westlichen Demokratien". Ebenso sehr muss das Buch jedoch auch als Selbstverortung ins Kielwasser der zu dieser Zeit grandios erfolgreichen konservativ-völkischen Philosophie im Gefolge Heideggers gelesen werden. Schüßler weist weder auf diese Lesart hin, noch macht sie auf die gefährlichen Fehler in Plessners Theorie aufmerksam, die in "Macht und menschliche Natur" deutlich zutage treten. Der Faschismus muss für Plessner als "verwirklichte Möglichkeit des Menschseins" gleichberechtigt neben anderen Gesellschaftsentwürfen stehen. Darüber hinaus birgt die Verbindung von Möglichkeit und Macht zur Beschreibung des Menschen die Gefahr, dass die "Mächtigeren" einigen Menschen das Menschsein schlicht aberkennen. Dem nationalsozialistischen Rassenwahn konnte Plessner mit seiner Anthropologie nichts entgegenhalten.

Plessner selbst wurden diese Irrtümer während der Emigration, die ihn zuerst nach Istanbul, später nach Groningen führte, schnell klar. Er distanziert sich später entschieden von den in "Macht und menschliche Natur" vorgestellten Überlegungen und versucht in einigen Aufsätzen, die Probleme seiner Anthropologie zu überwinden.

Zunächst jedoch entwickelt er seine Analyse der politischen Verführbarkeit der bürgerlichen Intelligenz. Dieses Buch, noch immer befangen im Sendungsbewusstsein eines Sonderwegs des spezifisch deutschen Geistes, erscheint in Schüßlers Darstellung als Plessners eigentliches Hauptwerk, als sein "Warnruf aus dem Exil".

Der Ruf erreicht Deutschland unter dem Titel "Die verspätete Nation" erst nach dem Krieg. Plessner wird ordentlicher Professor in Göttingen und widmet sich, nachdem "die Zeit der billigen Lebensphilosophie vorbei ist", der Soziologie. Mit der im Exil entstandenen Untersuchung über "Lachen und Weinen" als exzentrische Verhaltensweisen in Extremsituationen erscheint Plessners erstes wirklich erfolgreiches Buch. Auch hier spiegele sich, so Schüßler, Plessners Position eines "Exzentrikers, seltsam außerhalb aller wissenschaftlichen Schulen und politischen Diskussionsschwerpunkten stehend".

Schüßler unterfüttert ihre Rekonstruktion der politischen Momente in Plessners Biographie kenntnisreich mit einem gewaltigen Schatz an Anmerkungen. Stolze 947 Fußnoten ergänzen den 200 Seiten umfassenden Text. Hinzu kommt eine in Qualität und Umfang beeindruckende Bibliographie. Mit allem beweist Schüßler in akademischem Stil ihre große Sachkenntnis. Doch nur in den Fußnoten finden sich die wichtigen philosophischen Bezüge in Plessners Überlegungen, und auch da bleiben sie unvollständig. Weder der Untertitel des Buches noch der Klappentext lassen eine solche Vernachlässigung der philosophischen zugunsten der politischen Inhalte vermuten. Angesichts der essentiellen Verschränkung von Politik und Philosophie in Plessners Werk bleibt diese Gewichtung fragwürdig.

Kritisch anzumerken bleiben weiterhin einige Beeinträchtigungen der Lesbarkeit. Die Fußnoten sind sehr unübersichtlich gedruckt, und bei der Korrektur des Textes war man nicht besonders sorgfältig. Es häufen sich teilweise erhebliche Fehler in der Satzkonstruktion, und man ist bisweilen nicht sicher, ob die unvermittelten Worttrennungen in der Zeilenmitte eine Koketterie Schüßlers mit dem 'Jargon der Eigentlichkeit' oder doch nur störende Druckfehler sind.

Dennoch ist diese detaillierte Biographie als Einführung in Plessners Leben und Werk durchaus geeignet. Man sollte beim Lesen allerdings bemerken, dass die von Schüßler hervorgehobene politische Facette nicht Plessners einzige ist. Entdeckt man die anderen Seiten Plessners während der nicht immer leichten Lektüre, darf man sich immerhin vor Augen führen, dass das Bewusstsein der eigenen Irrtümer zu Reiz und Wert des philosophisch bewegten Lebens Helmuth Plessners nicht unerheblich beigetragen hat.

Titelbild

Kersten Schüßler: Helmuth Plessner - Eine intellektuelle Biographie.
Philo Verlagsgesellschaft, Berlin und Wien 2000.
298 Seiten, 24,50 EUR.
ISBN-10: 3825701883

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