Nicht die Toten zählen

Thomas Glavinic' Novelle "Der Kameramörder"

Von Frank HerlitschkaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Herlitschka

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was wie ein besserer Schulaufsatz über die Erfahrungen der letzten Ferien beginnt, verdichtet sich Seite um Seite zu einem spektakulären Bericht über die Wechselwirkung von Quotengeilheit der Medien und der Sensationsgier eines Publikums, dessen Leben die Moral abhanden gekommen ist. Das Leben: hier disqualifiziert es sich selbst als stupide Unterbrechung zwischen den einzelnen Sendeterminen des Fernsehens und der sehnsuchtsvoll erwarteten Sonderausgabe einer Tageszeitung.

Berichtet wird von der Zusammenkunft zweier befreundeter Paare, dem Osterbesuch des Erzählers und seiner Lebensgefährtin bei ihren Freunden. Im Haus dieser Freunde in Österreich findet fast alles statt. Die Protagonisten pendeln zwischen Küche und Wohnzimmer, um doch immer nur vor dem Fernseher zu landen. Denn was man in der Glotze sieht, erfährt man sonst nirgendwo: gezeigt wird nichts weniger als das "größte Verbrechen der Welt", der Mord an zwei Kindern, der von dem Mörder mit einer Videokamera aufgenommen wurde, bevor das Band einem privaten Fernsehsender zugespielt worden ist.

Gesucht wird also "Der Kameramörder". Fast augenblicklich erreicht das mediale Interesse hysterische Ausmaße. Und das Publikum - allen voran die beiden Paare - hält gebannt vor dem Fernseher den Atem an und verfolgt mit schon wahnwitzigem Eifer das beinahe stündlich aktualisierte Geschehen.

Wie sie aber im Laufe dieser doppelten Inszenierung (Mord vor der Kamera und Medienspektakel) selbst zu Teilnehmern dieses Stücks werden, bis - zumindest dem Ich-Erzähler - jeglicher Sinn für die Realität abhanden kommt, davon erzählt Thomas Glavinic' wirklich äußerst gelungene Novelle. Gekonnt zieht dieser noch junge Schriftsteller (Jahrgang 1972) das Tempo zum Ende hin immer mehr an, um schließlich mit einem furiosen Showdown zu enden. Zurück bleibt der beeindruckte Leser, der sich ob des Gelesenen ungläubig die Augen reibt - und doch genau weiß, dass das alles sehr wahr ist.

Titelbild

Thomas Glavinic: Der Kameramörder. Novelle.
Verlag Volk & Welt, Berlin 2001.
157 Seiten, 16,40 EUR.
ISBN-10: 3353011919

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