Es fährt ein Zug nach Nirgendwo

Ernst Strebel fährt auf ein literarisches Abstellgleis

Von Dominik Johannes SchäferRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dominik Johannes Schäfer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Erholsame an einer Bahnfahrt ist die Tatsache, dass sie Reisende ohne eigenes Zutun an ihr Ziel befördert. Das Wunderbare an der Lektüre eines Romans ist die Möglichkeit, durch den Autor geleitet von Seite zu Seite zu wechseln und so in eine neue Welt einzutauchen. Vielleicht hatte Ernst Strebel bei der Konzeption seines Projekts "Das Kursbuch des Fahrtenschreibers" gehofft, durch die Aufnahme des Schienennetzes der Schweiz in seinen Roman ein wunderbar erholsames Buch zu schreiben. Er mag es gehofft haben.

"Jede Abfahrt scheint möglich, die Wagen werden immer neu zusammengehängt, die Weichen nie ein für alle Mal gestellt", denkt der Fahrtenschreiber, ein Sänger in der Stimmkrise, auf einer der vielen Linien, die den Leser durch das Buch geleiten sollen. Auf welcher Linie er diesen Eindruck gewinnt, ist schon bald völlig gleichgültig, denn vom Autor zu dauerndem Umsteigen, Rast machen und Zurückfahren animiert, verliert der Leser die Orientierung in den weiten Tälern und auf den hohen Gipfeln der Schweiz. So lehnt man sich bald zurück und lässt sich, durch das Rattern der Räder leicht eingeschläfert, einem unbekannten Ziel entgegentragen. Nur noch schlaglichtartig tauchen Bilder und Eindrücke der einzelnen Kantone vor dem inneren Auge des Reisenden auf. Manchmal wird das Blickfeld von Werken der Kunst, der Literatur oder der Musik erfüllt, und der reisende Leser ist versucht, die Notbremse zu ziehen, um sich dem dargebotenen Gedicht "Paris, 1. Mai 1977" von Alfred Andersch oder der "Dichterliebe" von Robert Schumann zu widmen.

Doch es gibt keine Notbremse in den Waggons dieses Buches. Sie halten nur ganz planmäßig an den Bahnhöfen zwischen Aarau und Zürich. An diesen Bahnhöfen kann man dann umsteigen oder auch zurückfahren. Zurückfahren, nur um erneut am Objekt des Interesses vorbeigehetzt zu werden. So ergibt sich lediglich in ganz seltenen Momenten die Möglichkeit zur intensiveren Auseinandersetzung mit einer der vielen kurzen durch die Bahnlinie miteinander verknüpften Episoden. In diesen wenigen Augenblicken hält man wirklich inne, vergisst am nächsten Bahnhof umzusteigen und verweilt einfach im gewählten Abteil als stiller Beobachter einer vertrauten und doch so fremden Welt. Es scheint fast zwangsläufig so zu sein, dass dieses Werk seinen erzählerischen Höhepunkt auf den wenigen Seiten erreicht, die sich am weitesten von den Schienen und der durch sie erzeugten Bindung entfernen. Man lernt den Fahrtenschreiber, jenen ruhig wartenden und doch rastlosen Protagonisten von seiner ganz privaten Seite kennen und hört Geschichten von der Gleichberechtigung der Frauen und den Schwierigkeiten der Männer mit der Verwirklichung ihrer Utopien.

In diesen intimsten Augenblicken wünscht man sich, dass man vom Autor nicht wieder raus auf die kalten Bahnhöfe der Schweiz gehetzt und dem gnadenlosen Fahrplan der Bahngesellschaft unterworfen wird. Vielmehr hofft man, dass mit dem Ende dieser kurzen Episode auch das Buch endet oder dass der Autor wenigstens eingesteht, dass er viele Geschichten geschrieben hat, die irgendetwas mit der Eisenbahn zu tun haben, aber keine gemeinsame Geschichte ergeben. Er hat sich entschlossen, es nicht einzuräumen. Er hat sich vielmehr auf das waghalsige Projekt eines Buches nach dem Prinzip der Bahnlinien eingelassen. Der Leser kann immer umsteigen, und er soll auch immer umsteigen, doch leider führt diese offensichtliche Ziellosigkeit des gesamten Handlungskonstrukts dazu, dass der Leser nicht mehr umsteigt, sondern einfach aussteigt und wieder einmal denkt: "Scheiß Bahn, das nächste Mal fahr ich mit dem Auto!"

Titelbild

Ernst Strebel: Das Kursbuch des Fahrtenschreibers.
Limmat Verlag, Zürich 2000.
296 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3857913479

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch