Richter der eigenen Moral

Elie Wiesel ergründet in seinem Buch "Die Richter" die Frage nach dem Sinn des Vergangenen

Von Oliver GeorgiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Georgi

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Auf dem Flug von New York nach Tel Aviv muss eine Maschine mitten in Connecticut notlanden. Ein zwar etwas seltsamer, doch durchaus freundlicher Mann bietet fünf Passagieren an, sie in seinem Haus zu beherbergen, bis der Flug fortgesetzt wird. Schon bald entpuppt sich der Gastgeber jedoch als Verrückter; als selbst ernannter "Richter", der die Gäste gefangen hält und ihnen ein gnadenloses Verhör über ihre Vergangenheit aufzwingt. So wird auch jeder der fünf selbst zu seinem eigenen Richter über Hoffnungen, Verluste und Verfehlungen seines Lebens. Doch nicht nur über sich selbst haben die Gefangenen zu richten: im Laufe der Nacht sollen sie einen der ihren auswählen, über den der Richter das Todesurteil verhängen wird.

Es ist beileibe keine Kriminalgeschichte, die Elie Wiesel in seinem Buch "Die Richter" erzählt. Vielmehr geht es dem Autor um die Grenzbereiche menschlicher Psyche, um Erinnerung und Verdrängung, um das aufeinander Angewiesensein in der Gruppe und den persönlichen, egoistischen Drang zu überleben. Die Szenerie, die Wiesel rund um seinen selbst ernannten Richter entwirft, ist klassisch in ihrer Zugespitztheit: Der Autor verrückt - ähnlich wie Kafka oder Dürrenmatt - die Realität um eine Winzigkeit, um so philosophisch eine der Grundfragen des menschlichen Daseins zu diskutieren: "Du suchst deine Vergangenheit, und du wirst weiter nach ihr suchen. Und niemand, auch Gott nicht, kann sie dir wiedergeben." Die vergebliche Suche nach dem Sinn des Vergangenen und vor allem die Erkenntnis seiner Unumkehrbarkeit, das ist Wiesels großes Thema. Und so steigt er tief hinab in die Abgründe menschlicher Psyche, in denen die Frage verborgen liegt: Kann das Böse durch das Böse bewältigt werden, und kann man der Vergangenheit entkommen, indem man sie neu erfindet?

Was Elie Wiesels Roman neben seiner philosophischen Brillanz so lesenswert und wertvoll macht, ist die Dichte seiner Prosa: In wohltuend klarer, unprätentiöser Sprache entwirft er eindringliche Szenerien, schafft mit wenigen Worten atmosphärisch stimmige Bilder. Ebenso bemerkenswert ist, dass Wiesel die Balance zwischen philosophischer Tiefe und Spannungsbogen hält: die Handlung ist nicht nur Transporteur des Philosophischen, sondern ihm durchaus gleichberechtigt.

Ein eindrücklicher, nachdenklicher Roman in bester Dürrenmatt-Tradition, mit dem der Friedensnobelpreisträger seine zahlreichen Auszeichnungen erneut rechtfertigt. Den Sinn des Vergangenen zu ergründen - ein Wunsch, der vor dem Hintergrund, dass Elie Wiesel 1944 selbst nach Auschwitz deportiert wurde, beklemmend vergeblich ist.

Titelbild

Elie Wiesel: Die Richter.
Bastei Lübbe, Bergisch Gladbach 2001.
256 Seiten, 17,40 EUR.
ISBN-10: 3785715242

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