Zerstören durch Zuneigung

Régine Detambel lässt ein Glasdach zerspringen

Von Saskia SchulteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Saskia Schulte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein junges Mädchen lebt in einer liebesfeindlichen Welt: Die Mutter ist grausam, der Vater witzelt, Freunde hat sie keine. Auch das Haus, in dem sie wohnt, wirkt alles andere als beschützend. Die Raumaufteilung ist verwirrend und beengend, die Mauern scheinen zu flüstern. Doch im Innenhof befindet sich ein Glasdach, unter dem Mina lebt, eine arme Araberin. Opfer ist auch sie: um ihr das Tageslicht zu nehmen, wirft die Mutter eine Decke auf das Dach, durch einen Riss wirft sie Zigarettenstummel in die darunter liegende Wohnung.

Ihre pubertierende Tochter will Mina beschützen, doch in ihr sind auch andere Instinkte erwacht. Sie begehrt Mina, fordert ihre Aufmerksamkeit, ihre Zuneigung, ihre Küsse. Diese macht das Liebesspiel nicht ungern mit. Doch von der Fabrikarbeit ermüdet, hat Mina oft kaum noch Kraft, sich zu wehren oder die Zärtlichkeiten zu erwidern. Nach einer Zeit voller "ich brauche dich, ich brauche dich nicht" geht sie fort. Das junge Mädchen fühlt sich verlassen und verraten. In ihrem Inneren ballt sich eine Faust...

Die 1963 geborenen Autorin Régine Detambel erzeugt erzählend ein unterschwellig dumpfes Brüten. Gewalt herrscht vor in der Welt der Protagonistin, und als die sich mit den explosionsartigen Gefühlsausbrüchen des sexuell erwachenden Mädchens vermischt, lässt eine Katastrophe nicht lange auf sich warten. Die Menschen nehmen sich gegenseitig in Anspruch, das ist die einzige Form der Zuneigung, die das Mädchen kennt. So zerstört sie ihre Beziehung zu Mina, und weil sie Mina nicht vergessen kann, zerstört sie alles, was zu Mina gehört: Und auf dem Glasdachhimmel hatte sie einst für die Geliebte ein gelbes T-Shirt als Sonne aufgehen lassen.

Régine Detambel gibt Einblick in die Psyche einer Person, deren Gefühlsleben unter Druck steht. Die einzige Möglichkeit für den überhitzten Dampfkessel aus Verlustangst, Erwachsenwerdenwollen und Sexualität besteht darin, in die Luft zu gehen. Sinnlich wird dies von Detambel erzählt, als bräuchten die Worte ebenso ein Ventil wie die Protagonistin.

"Eines Nachts weckte uns das Haus. Das Fieber kam vom Boden und von der Decke. Wir mußten die Fenster öffnen. Sämtliche Wasserhähne tropften unregelmäßig. Mit dem Geräusch eines untertauchenden Froschs fiel ein Stück Gips in die Wasserspülung. Gegen zwei Uhr morgens standen wir in der Küche. Mein Vater war sehr besorgt und betastete die Wände. [...] Ich ging sofort runter in den Hof, um das Glasdach zu streicheln, so als sei es ein riesiger Diamant, den Mina mir als Beweis ihrer Liebe geschenkt hatte."

Titelbild

Régine Detambel: Das Glasdach. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Gabrielle Seil und Georges Hausemer.
Gollenstein Verlag, Blieskastel 2000.
164 Seiten, 16,40 EUR.
ISBN-10: 3933389291

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