Biografische Spurensuche
Lena Kuglers Romanerstling "Wie viele Züge"
Von Peter Mohr
Besprochene Bücher / Literaturhinweise"Geschichte fängt bei den Menschen an", hat die Studentin Jula einst in der Schule gelernt und beherzigt diese These bei der Rekonstruktion ihres Vaterbildes. Die Protagonistin begibt sich im Rahmen ihres Russischstudiums in die von vielen Geheimnissen umwobene Stadt Odessa. Der unvermittelte Zuruf einer Zigeunerin und die Begegnung mit einem jungen Mann setzen sofort Erinnerungen an ihren verstorbenen Vater in Gang, über den sie viele Geschichten erfahren hat, der aber als Person nicht über den Status einer ungreifbaren Chimäre hinausgelangt ist.
Die 26-jährige, in Berlin lebende literarische Debütantin Lena Kugler schickt ihre Jula auf eine biografische Spurensuche, auf eine Reise in die Vergangenheit, bei der sich Fakten, Assoziationen und Imaginationen zu einer komplexen Mixtur verbinden. Sie sucht ihre familiären Wurzeln, doch je tiefer sie in die Geschichte und in ihren Prozess der Selbstfindung eindringt, um so mehr Rätsel offenbaren sich.
Der Weinberg und das stattliche Haus werden als Hirngespinste des Vaters entlarvt. Bis auf wenige biografische Eckpfeiler - der Vater war ungarischer Jude, die Mutter Deutsche - obliegt es der Deutung des Lesers, Licht in das Dickicht aus vagen Andeutungen und freigelegten Fährten zu bringen und zwischen historischer Realität und assoziierten Legenden zu unterscheiden.
In der Roten Armee soll der Vater gegen die Judenmörder aus dem Land der Mutter gekämpft haben, später habe er sich der zionistischen Bewegung angeschlossen und die Mutter als "Nazi-Hure" beschimpft. Auf dem Dachboden findet die geradezu obsessiv forschende Jula Briefe und Fotos ihres Vaters, die den Wahrheitsgehalt seines Lebenslaufs in Frage stellen und ihr gerade entworfenes Vaterbild zerstören.
Ob in Israel, in der Slowakei oder in Odessa: Die junge Studentin stößt bei ihren Recherchen stets auf schmerzliche Unvollkommenheiten. Sie leidet gleichermaßen an ihrer Existenz als Halbjüdin wie an der halbierten Familie, und auch die Begegnung mit den halben Wahrheiten über ihren Vater ist eine leidvolle Erfahrung. War er nun auch noch ein begabter Physiker, der nach dem Krieg für die Tschechoslowakei geforscht hat, ehe er bei den Kommunisten in Ungnade fiel und sich dann in die Schweiz abgesetzt hat?
Lena Kuglers Suchbewegung ist ein literarischer Orientierungslauf durch ein historisches Labyrinth - allerdings ohne Kompass. Man folgt ihr als Leser - nicht zuletzt wegen der präzisen und bildkräftigen Sprache - mit Vergnügen und in der detektivischen Hoffnung, selbst irgendwie einen Ausweg zu finden.
Was sich als Trugschluss erweisen kann, denn Jula ist nach all den Nachforschungen selbst ratlos: "Was glaubst du Mama, stimmt das?" Wir verharren als Gefangene in einem dunklen biografischen Raum, ohne Aussicht auf Befreiung - interniert durch die unlösbaren Rätsel der Historie.
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