Von der Kälte in die Wärme
Øivind Hånes macht Unmögliches möglich und taut den "Permafrost" auf
Von Stefanie Schwaratzki
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseEine Tür zwischen zwei Welten öffnet sich dem in Schweden lebenden Litauer Jonas Budrys an dem Tag, als seine Mutter stirbt. Einem Brief zufolge, den Jonas bei den Unterlagen seiner Mutter findet, soll sein Vater bei der Flucht aus einem russischen Arbeitslager ums Leben gekommen sein. Mit Hilfe von alten Bekannten seines Vaters und in Russland neu gefundenen Freunden, einem Priester und einer Lehrerin, versucht er nach dem Verbleib seines Vaters zu forschen.
Von (ivind Hånes ist nach "Amerikanische Landmaschinen" nun ein weiterer Roman in deutscher Sprache erschienen: "Permafrost". Dieses Kunstwort ist aus den Worten permanent und Frost gebildet und bezeichnet den bis zu 300 Meter tiefen, dauerhaft gefrorenen Boden in Sibirien und Alaska, der aufgrund der niedrigen Temperaturen auch in den Sommermonaten nur sehr oberflächlich auftaut.
In diesem Boden, dem "Permafrost" der russischen Taiga, beginnt Jonas mit der Suche nach dem Grab seines Vaters.
In eindrucksvoller Weise schildert der norwegische Autor Øivind Hånes in seinem neuen Roman die verzweifelten Nachforschungen eines jungen Mannes. An wen kann er sich wenden? Wer kann ihm helfen? Was ist damals wirklich mit seinem Vater geschehen? Gibt es irgendwo noch Menschen, die ihn kannten? Was will er überhaupt in Russland? Fragen über Fragen, die sich nicht nur dem Protagonisten, sondern auch dem Leser des Romans stellen.
Immer wieder glaubt man zu wissen, was damals vorgefallen sein könnte, denn Øivind Hånes versteht es auf brillante Weise die Lösung des Rätsels auf der einen Seite anzudeuten, um sie allerdings auf der nächsten sofort wieder zu verwerfen. So folgt nicht nur für den Protagonisten eine Enttäuschung nach der anderen, die Spannung wird auch für den Lesenden bis ins Unerträgliche gesteigert.
Der Leser fühlt immer mit, ist eingebunden in die Verzweiflung des Suchenden, so dass er mit Jonas reist, von Friedhof zu Friedhof, liest, wie er, die endlosen Namen auf den Gräbern, "lange Reihen Namen, Namen in Holzlatten geschnitzt". Die Suche nach dem Vater scheint aussichtslos zu sein. "Er ist nicht hier, ist nie hier gewesen." Nicht einmal die neuen Freunde können Jonas bei den Nachforschungen helfen. Sie öffnen nur das Tor in die Vergangenheit noch ein kleines Stückchen weiter, geben mit ihrer eigenen Lebensgeschichte einen kurzen Einblick in einen der entsetzlichsten Teile der russischen Geschichte.
Erschreckend real werden von Øivind Hånes die Grausamkeiten der stalinistischen Herrschaft geschildert, die furchtbare und ausweglose Situation der Häftlinge in den Lagern. Einfühlsam verknüpft der Autor ihre Schicksale und gibt ihnen so ein Gesicht - sowohl die Häftlinge als auch die Suchenden nehmen Gestalt an. Diese Bilder, die Øivind Hånes vor dem geistigen Auge entstehen lässt, bewegen zutiefst.
Trost findet der Leser erst zum Schluss. Er erfährt die tatsächlichen Begebenheiten und den Aufenthaltsort des Vaters. Für Jonas bleibt das Rätsel zwar ungelöst, "irgendetwas in dem Bild stimmt nicht", "etwas bleibt ihm verborgen", aber seine Geschichte wendet sich trotzdem zum Guten, denn er kann endlich mit der Vergangenheit abschließen. Seine Reise in die sibirische Taiga ist also nicht umsonst gewesen, denn er hat in Russland viel Wichtigeres gefunden: zwei gute neue Freunde und sich selbst.