Ein Leben auf den Dächern

Barbara Vine widmet sich den spannenden Lebensgeschichten einer Gruppe junger Menschen

Von Julia RauRSS-Newsfeed neuer Artikel von Julia Rau

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Roman "Heuschrecken" ist eine Mischung aus Lebensgeschichte, Liebesgeschichte, Erzählung, Krimi und Abenteuer.

Hauptfigur ist Clodagh, selbstständige Elektrikerin, die anhand ihrer Erinnerungen und Tagebuchaufzeichnungen nicht nur die Geschichte ihres eigenen Lebens erzählt, sondern auch die der Menschen, denen sie in ihrem Leben begegnet ist.

Von ihren Eltern wird sie nach London geschickt, um ihre "Sünde" durch ein erfolgreiches Studium wieder gut zu machen. Diese "Sünde" ist die Beteiligung an einem tragischen Unfall, bei dem ihre Jugendliebe tödlich verunglückte. Man beschuldigte sie, ihren Freund ermutigt zu haben, einen Hochspannungsmasten, genannt "Heuschrecke", zu erklimmen und seinen Tod leichtsinnig herbeigeführt zu haben. Belastet von diesem Erlebnis und den damit verbundenen Schuldgefühlen, trifft sie in London ein. Hier ist sie zunächst umgeben von der ihr so verhassten Dunkelheit und Enge einer Kellerwohnung, von neurotischen, misstrauischen Vermietern und der ungeliebten Fachhochschule. Durch einen Zufall begegnet sie Silver, dem Sohn der Nachbarn - und ihr Leben beginnt sich drastisch zu verändern. In seiner Wohnung trifft sie auf die unterschiedlichsten Charaktere: sie erlebt Menschen, die wie sie voll sind von den verschiedensten Ängsten und Hoffnungen, Träumen und Zielen. Auch die schönsten Momente ihres Lebens hat sie der neuen Umgebung zu verdanken. Dazu gehören nächtliche Ausflüge über die Dächer Londons, die Clodagh ihr geliebtes Gefühl von Freiheit vermitteln.

Doch die Idylle fällt mit der Zeit zusammen wie ein Kartenhaus, und auch die Beziehung zwischen Clodagh und Silver findet ein unfreiwilliges Ende.

Barbara Vine versteht es, den Leser gleich von Beginn an zu fesseln, indem sie Abschnitte einer Geschichte erzählt, sie scheinbar wieder fallen lässt, um sie dann wenig später wieder aufzugreifen. Die so erzeugte Spannung zeichnet das komplette Buch aus. So erfährt der Leser beispielsweise erst ganz zum Schluss, wer der geheimnisvolle Ehemann ist, den Clodagh häufig andeutet. Und auch der Zusammenhang zwischen den immer wieder erwähnten Hochspannungsmasten und dem Unfall ihrer Jugendliebe wird erst nach und nach deutlich. Aber auch die Verflechtung der Einzelschicksale miteinander ist wunderbar gelungen. Clodagh begegnet den Menschen, die sie während ihrer Zeit in Silvers Dachgeschosswohnung kennen gelernt hat, in ihrem späteren Beruf und Leben wieder. Dadurch verknüpft Vine die Gegenwart mit der Vergangenheit ihrer Hauptfigur. Bemerkenswert sind die Porträts, die die Autorin von den einzelnen Personen der Geschichte zeichnet. Man erlebt die Höhen und Tiefen der jungen Leute hautnah mit, man kann sich in ihre Empfindungen hineinversetzen. So hat man immer das Gefühl, dass man mehr über eine Person weiß, als die Ich- Erzählung eigentlich zulässt.

Ein wenig anstrengend sind die häufigen Wechsel zwischen Vergangenheit und Gegenwart anfangs schon. Ein weiterer Kritikpunkt kann die detaillierte Darstellung der Umgebung sein. Lesern, die die Begeisterung Vines für die Stadt London nicht teilen, fällt es sicherlich schwer, der Topographie und den nächtlichen Ausflügen über Londons Dächer Bedeutung beizumessen. Wenn man sich allerdings damit auseinander setzt, dass gerade diese Detailkenntnis einen Teil der Faszination des Buches ausmacht, wird man sich in diesem Punkt schnell selbst widersprechen.

Titelbild

Barbara Vine: Heuschrecken. Roman.
Diogenes Verlag, Zürich 2001.
644 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-10: 3257233469
ISBN-13: 9783257233469

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