Aus den Gesammelten Werken

Eine Jandl-Anthologie im Kontext

Von Thomas BetzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Betz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine Sammlung von Texten bringt die einzelnen Texte in andere Zusammenhänge und stellt neue Zusammenhänge her. Dies kann in Form eines eigenen Texts, eines "Werks" geschehen - wie in Ernst Jandls "szenen aus dem wirklichen leben" (1966), in dem Jandl zu einem vorgegebenen Thema seine Texte als "Fertigteile" zu einem Stück montiert, zu einem Text anderer pragmatischer Dimensionen und neuer Bedeutungskomplexe komponiert hat - oder in Form einer - mehr oder weniger geglückten - Anthologie, der unsere literarische Tradition und kulturelle Praxis einen Werkcharakter schon oder noch zusprechen kann, die jedenfalls Lesern das Angebot macht, Texte, wenn nicht erstmals, so doch neu kennen zu lernen. Diese Jandl-Anthologie stiftet aber nicht nur produktiv Kontexte, sondern ist zugleich Teil einer Serie fortschreitend mangelhafter Präsentation von Jandls Werk. Ein Beispiel dafür, wie man Klassiker würdigt, vermarktet und in ihren Dimensionen beschneidet.

Der Herausgeber, Jandls Lektor Klaus Siblewski, knüpft daran an bzw. stößt sich davon ab, dass der Autor bei zwei Lesungen den Kontext der "persönlichen Lebensumstände" bei der Gedichtentstehung thematisiert und Selbstbezüge hergestellt hatte. Zunächst irritiert - im Vergleich etwa mit Jandls systematischem Umgang mit dem "Material" Sprache (und mit den sein Schreiben begleitenden Aussagen) - wie leichthin Siblewski im Nachwort die Gegenstände seiner Sammlung, gleichsam ohne Anführungszeichen, als "Jandls autobiographische Texte" ("autobiographische" Texte?) etikettiert. "Bunt" sind auch nicht Jandls Texte, sondern bunt ist Siblewskis Zusammenstellung. Die lässt sich als "ein sehr persönlich gefärbter" (Siblewski meint hier nicht seine Herausgeberakzentuierung, sondern Jandl als "persönlichen" Schriftsteller) "Querschnitt durch sein Werk" lesen.

Die Ausrichtung der Anthologie (entsprechend der Fragestellung nach "Jandls Lebensspur" in seinem Œuvre) realisiert der Herausgeber mit folgendem Gliederungsprinzip: "Die Reihung der Gedichte hat sich an der Chronologie von Jandls Biographie und den Phasen orientiert, in denen er in seinem Werk auf sich selber eingegangen ist." Hat also Ernst Jandl in seinem Leben erst rechts und links verwechselt, danach Ottos Mops und anschließend Kirchen und Zwetschgen kennen gelernt, bevor so genannte Humanisten mit Kunst und Muttersprache sowie mit der Geschichte des Vaterlands hantieren bzw. "braune" Schlächter auftreten? Nein, ich als Leser nehme es chronologisch nicht so streng (es folgt eine Textgruppe zu Geburt, Familie und Erziehung), denn der Herausgeber soll seine Freiheiten haben, wie der Leser die seinen. Die Freude am Buch ist eine wahre, nämlich eine bei Jandls Texten sich immer wieder einstellende Erfahrung mit Sprache, mit Biographie, mit dem Gewohnten: "alle Gewöhnung daran muß aufhören, wo Poesie beginnen soll."

Dem Dank an den Herausgeber müssen hier aber kritische Anmerkungen folgen, wenn man das Buch im Kontext von Jandls Werk und seiner Präsentation durch den Verlag sieht. Denn erstens liegt ein solcher "sehr persönlich gefärbter Querschnitt" mit chronologisch-biographischer Gliederung bereits vor: der von Jandl 1995 selbst zusammengestellte Auswahlband "lechts und rinks. gedichte. statements. peppermints". Der beginnt mit dem Ersten Weltkrieg und den 30er Jahren, führt durch das Politische zum Geriatrischen und ist ein atemberaubendes Buch. Zweitens hält sich Herausgeber Siblewski bei seiner Auswahl und Gattungsmischung zugute, das erzählerische Werk sei "in diesem Buch auch in einer Vollständigkeit enthalten wie in keinem Buch von Ernst Jandl zuvor (außer der längst vergriffenen Gesammelten Werke von 1985)". Hier liegt das Ärgernis, das durch den stolzen Verweis auf die Werkausgabe von 1997 nicht geringer wird.

Zur Erinnerung: Die dreibändigen, von Klaus Siblewski verdienstvoll herausgegebenen "Gesammelten Werke" von 1985 waren eine schöne, großzügige, in vielem optimale und dem Rang des Autors angemessene Präsentation seines Werks. Gegliedert waren sie nach Gattungen: zwei Bände mit den Gedichtbüchern (in Chronologie) plus verstreut publizierten und unveröffentlichten Gedichten 1952-1985, ein Band "Stücke und Prosa", d. h. in der vom Herausgeber gewählten Einteilung "Hörspiele", "Texte zum Hörspiel", "Theaterstücke", "Texte zum Theater", "Vermischte Prosa", "Aufsätze, Vorträge und Reden" und "Autobiographische Prosa". 1990 wurden sie in kartonierter Sonderausgabe angeboten. Diese Ausgabe wurde also in der Folge nicht um die fehlenden Texte ergänzt, von Fehlern befreit oder um die seither publizierten Texte erweitert - und auch nicht einmal als Edition des besten Status quo am Markt gehalten. Ein zweifaches Desiderat. Stattdessen ersetzte Siblewski 1997 die vergriffenen Gesammelten Werke durch die Herausgabe einer neuen, zehnbändigen Ausgabe "poetische werke", welche "die im engeren Sinne poetischen Teile" der Gesammelten Werken umfasst sowie die drei seither (1989, 1992 und 1996) veröffentlichten Gedichtbücher Jandls. Neu gegenüber den Gesammelten Werken waren Jandls Nachbemerkungen und seine Zeichnungen sowie die chronologische Aufteilung der unselbständig publizierten "verstreuten gedichte" auf fünf Bände (ein möglicher kontextueller Gewinn für den Leser, für den Käufer und Jandl-Buchbesitzer ein größerer Einsatz). Denn die Bände sind zwar einzeln erhältlich, die gesamte Ausgabe bietet dem Neueinsteiger aber deutlich weniger Jandl, bedingt durch die - speziell bei Jandl - fragwürdige Eingrenzung ("im engeren Sinne poetisch") und Auswahl. Verschlechtert hat sich auch die Textpräsentation (etwa bei den "stanzen"). Insgesamt also eine inhaltlich unbefriedigende und wissenschaftlich unbrauchbare Ausgabe: die Verbreitung des Klassikers Jandl im Rückschritt. Doch Desiderate erlauben Zusatzangebote. Hier wieder nur Ersatz: Als elfter (Nachfolge-)Band der Poetischen Werke bot "Autor in Gesellschaft" leider nicht, wie behauptet, die "erste vollständige Sammlung" der essayistischen Arbeiten Jandls, sondern nur eine (mehr als schlecht begründete) Auswahl aus dem bereits Vorhandenen (unter Nichtachtung des weiteren, versäumten Möglichen).

Der jetzt vorliegende - ich wiederhole: anregende - eigenständige, thematisch freie Sammelband aus verschiedenen Textsorten setzt die Herausgeberpraxis fort, sich die Präsentation einzelner "lange nicht zu greifender" Texte (hier: "szenen aus dem wirklichen leben") anzurechnen, nachdem er selbst mit dem Verlag einen Großteil der Texte auf dem Markt hat ungreifbar werden lassen und damit (die selbst mit sichtbar gemachte) Spracharbeit Jandls in ihrer Gesamtheit und Kontextualität zum Verschwinden gebracht hat.

In seiner Gattungsmischung erlaubt es der Band, den gattungsübergreifenden Prinzipien von Jandls Poesie nachzugehen. Er verwertet also (teils im Auszug) einzelne, nicht mehr greifbare Texte aus den GW, so die Abteilung "Autobiographische Texte" - letztere aber nicht in der von Jandl publizierten Schreibung. Dass ein solcher Umgang der Arbeit des Autors nicht angemessen ist, wird an dem Detail deutlich, dass Jandls wichtigste poetische Titelformulierung "Laut und Luise" (Großschreibung im Kleinschreibungskontext) hier (S. 110) mit Jandls Text einer gleichmacherischen, von Jandl nicht praktizierten Kleinschreibung geopfert wird. Der vom Autor im poetischen Text systematisch erarbeiteten Realisierung von "Freiheit" antwortet die freiheitliche Realisierung des Lesers als Mitspieler. Auf welche Spielregeln gegenüber Autor und Leser verpflichtet sich die vermittelnde Instanz des Verlags?

Titelbild

Ernst Jandl: aus dem wirklichen leben. gedichte und prosa.
Zusammengestellt von Klaus Siblewski.
Übersetzt aus dem ## von ##.
Luchterhand Literaturverlag, München 1999.
182 Seiten, 16,40 EUR.
ISBN-10: 3630870414

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